Ein Gastbeitrag über Obdachlosigkeit von Ursel Schmid
Sein Blick war getrieben. Die Augen flackerten wie irrlichternde Taschenlampen auf einer Nachtwanderung. Links, rechts, hin und her. Die tiefblaue Iris und die blonden Strähnen unterstrichen die graubräunliche Farbmischung der Haut durch das Leben bei jeder Wetterlage auf der Straße.
Unwillig schüttelte Bert seinen brummenden Schädel. Er brauchte dringend die nächste Dosis! Verdammte Scheiße, dieser verfickte Virus erschwerte sein Leben ungemein. Vorsichtig reckte er den Kopf und schaute sich auf der Domplatte um. Wo üblicherweise bei Sonnenschein der Bär vor der gotischen Kulisse steppte, herrschte im Lockdown gähnende Leere. Er hatte keine Wahl, dies war sein gewohntes Terrain, sein Betätigungsfeld. Wo sollte er sonst hin?
Wie er das Gebrabbel der Touristenmassen vermisste. Ja gut, oft genug hatte er ihr fröhliches Geschnatter verflucht und ihre dämliche Angewohnheit, für Selfies vor der prachtvollen Domkulisse zu posieren, am besten mit Selfiestick … smile, klick klick, giggeln …
Aber ihre vollen Rucksäcke, die prall gefüllten Portemonnaies und locker sitzenden Smartphones, die hatte er nicht verachtet. Es war zu normalen Zeiten ein Leichtes, sie in der Szene zu versilbern. Wie leichtsinnig die Idioten mit ihren Besitztümern umgingen. Fixiert auf sich, auf die Sehenswürdigkeiten, auf das nächste Shopping-Vergnügen …
Bert seufzte und kauerte sich auf einer Treppenstufe zusammen.
So ein Mist. Die Typen von der Regierung hatten sich eine Menge einfallen lassen, um Geschäfte zu unterstützen. Aber an die Kleinkriminellen verschwendete keiner einen Gedanken. Er war nun arbeitslos. Wen kümmerten die Obdachlosen und Süchtigen. Kein Aas trug mehr Bargeld bei sich, alle bezahlten mit Plastikkarten oder Handy. Was sollte er da noch klauen? Mit Münzen konnte er etwas anfangen. Seine Schmerzen und schwarzen Gedanken beschäftigten ihn unnachgiebig, da blieb kein Raum für Papierkram wie Anträge. Bert verknotete seine Finger, schloss die Augen und kämpfte verzweifelt mit den Tränen. Seine Beine fühlten sich an wie Grießbrei. Ihm lief der Speichel im Mund zusammen. Wovon sollte er leben, wenn der fehlende Schutz der Anonymität in der Masse ihn daran hinderte, seinem Tagewerk nachzugehen? Keiner stellte mehr Flaschen an den Mülleimern oder sonst wo ab, diese Einnahmen entfielen komplett. Sein Kopf sank auf die Brust.
„Ich helf dir mit dem Bürgergeldantrag“, hatte Sozialarbeiterin Elli angeboten. Doch er konnte sich nicht aufraffen. Sein Gehirn schlug Kapriolen bei den Gedanken an die notwendige Dosis. Welche Taschen sollte er ausrauben, wenn niemand mehr ins Land durfte? Selbst die rumänischen Kinderbanden waren scheinbar mangels Einnahmen nach Hause beordert worden. Nur vereinzelt huschten mal ein oder zwei Personen über die glatten grauen Steinplatten. Bert nahm einen tiefen Atemzug, er schmeckte kalt und bitter. Er zog die schmalen Schultern hoch und hustete. Keine Polizei zu sehen. Die Luft war rein. Er musste unwillkürlich grinsen. Ob das stimmte? Wer wusste schon, ob sich das perfide Virus, das sich unsichtbar mit der Harmlosigkeit des gleichnamigen Bieres in den Brustkörben der Menschen einnistete, nicht doch dem ab und an aufflackernden Ostwind trotzte und sich darin hielt?
Was schwirrten denn da für seltsame Gedanken in seinem Kopf herum … Wie um Himmelswillen sollte das jetzt weitergehen? Rastlos fingerte er nach dem abgegriffenen Mundschutz in seiner Jackentasche und scannte die Umgebung. Er war darauf angewiesen, Gefahr frühzeitig zu erkennen.
Nach wie vor spürte er die Folgen einer Attacke lange vor dem Lockdown von zwei betrunkenen Jugendlichen. Sie hatten ihn beschimpft und mit Schlägen durch seinen dünnen Schlafsack hindurch traktiert. Am Schluss hatten sie auf ihn uriniert. Nie wieder würde er diesen Urschmerz und die Demütigung loswerden. Sein Körper war wie imprägniert von dieser Erfahrung. Sie hatten erst von ihm abgelassen, als in der Ferne eine Sirene ertönte.
Ängstlich sah er sich um, die Erinnerung breitete sich wie Säure in seinen Gliedern aus.
Sein Blick fiel auf das Mäuerchen, an dem sich an normalen Tagen Jugendliche und Senioren tummelten und bei gutem Wetter ihre Gesichter in die Sonne reckten.
Eine junge Frau hockte auf dem Boden, den Rücken an die halbhohe Wand gelehnt. Fasziniert starrte Bert sie an. Den Hintern in die Erde gedrückt, die schmalen spitzen Knie in die Höhe gereckt, offenbarte sie dem überraschten Betrachter ihre unverhüllte Scham. Ihr Kopf war mit einem graubraunen Schal mit Felloptik umhüllt, fettige blonde Strähnen lugten hervor. Ihr Gesicht war nicht zu sehen.
Erschrocken und beschämt wandte Bert sich ab. Er fühlte sich ertappt wie ein Voyeur, spürte er doch selbst instinktiv, wenn er beobachtet wurde.
Ihm fiel eine Kindheitsszene ein. Er lag im Bett, seine Mutter las ihm und seinem Bruder ein Märchen vor, in dem eine Jungfrau vor ihrem Vater floh, sich in Fellresten verbarg und ihr Gesicht mit Ruß bemalte. Einem Impuls folgend kramte Bert im Rucksack nach dem Lebensmittelpaket vom Sozialdienst, fischte eine Kekspackung und einen kleinen Kakao im Tetra Pak heraus. Er war froh, sich die Maske ersparen zu können, das Einschneiden an den Ohren und auf der von den Drogen papierdünnen Haut quälte ihn. Mit dem Essen in der Hand lief er zum Mäuerchen.
Seine Augen suchten die zarte zusammengekauerte Gestalt, doch sein Blick ging ins Leere. Sie war verschwunden. Seine Suche nach rechts und links offenbarte nur menschenleere Wege. Nachdenklich hockte sich Bert auf ihren Platz und nahm unwillkürlich ihre Position ein. Ein Gefühl der Angst, Scham und Ausweglosigkeit packte ihn. Die Verletzlichkeit in dieser Pose lähmte seinen Körper. Er war versucht, den Kopf so wie sie zu verhüllen, in der Hoffnung, damit unsichtbar zu werden, wie ein Kind, das sich im Schrank versteckt. Sofort streckte er die Beine aus und veränderte seine Sitzposition.
Vorsichtig nahm er einen Schluck vom Kakao, die Süße durchströmte seinen Körper. Das Kekspapier raschelte, als er nach dem Kringel griff und sich hungrig einen Bissen einverleibte.
Berts unsteter Blick fiel auf ein blau-silbernes Auto, das sich langsam in etwas größerer Entfernung näherte. Verdammt, waren sie hinter ihm her? Er konzentrierte sich auf seine Umgebung und hielt die Luft an. Wenn sie ihn erwischten … es war Zeit, den Standort zu wechseln.
Sein Körper gehorchte ihm nur widerstrebend. Er stand auf, lief in Zeitlupe ein paar Schritte in Richtung der Einkaufsstraße und verschmolz automatisch mit der Umwelt.
Wie sie dagesessen war, so zerbrechlich, so durchscheinend. Sein Oberkörper zog sich zusammen. Ihr Anblick und ihr plötzliches Verschwinden hatten etwas in ihm ausgelöst. Er hob den Kopf. Heute war der richtige Moment, eine Veränderung anzugehen. Bevor er endgültig den Respekt vor sich und seinem schäbigen Leben verlor. Zu lange schon regierten Angst und Not darin.
Sein Gehirn steuerte die Füße in Richtung Schildergasse. Für heute würde er dem Impuls nachgeben und am Neumarkt sein Glück versuchen. Bei nächster Gelegenheit würde er Elli um Hilfe bitten, wenn die Sozialstation wieder öffnete. Leicht würde es nicht werden. Doch das Bild des Mädchens entfachte eine Kraft in ihm, die er lange nicht gespürt hatte. Er war nicht fähig, es auszulöschen. So hilflos dem schonungslosen Blick anderer ausgesetzt, wollte er nicht auf der Straße enden. Die Zeit war gekommen, etwas für seine Zukunft zu tun.
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1960 in Lima / Peru geboren.
Mit elf Jahren nach mehrjährigen Aufenthalten in verschiedenen Ländern nach Bonn gekommen, wo ich heute noch lebe.
Schon als Kind faszinierten mich Bücher und leuchteten meine Welt farbig aus.
Mein Studium an der Philosophischen Fakultät und das Arbeitsleben bei einem großen Unternehmen absorbierten später meine Energie so stark, dass wenig Zeit für das literarische Hobby blieb. Seit 2015 widme ich mich intensiv dem Schreiben.