Wut ist ein mächtiges Werkzeug – aber wer hält es in der Hand? Dieser Artikel zeigt, wie deine Wut instrumentalisiert wird – und wie du sie zurückholen kannst.
Populismus ist das Feindbild. Alle wettern dagegen. Und alle nutzen ihn selbst.
Es gibt ein System, das genau weiß, wie man Wut steuert. Es gibt Mechanismen, die dafür sorgen, dass du immer genau so wütend bist, dass du in den Kommentarspalten tobst – aber nie so sehr, dass du das Fundament in Frage stellst. Willkommen in der Empörungsindustrie.
Du scrollst durch die Kommentare, dein Puls rast. “Wie kann man nur so dumm sein?!”, denkst du und tippst los. Wieder jemand, der „die Fakten“ nicht sehen will. Aber Moment – sind es wirklich Fakten? Oder nur ein geschickt platziertes Fragment? Willkommen in der Empörungsindustrie, in der es nie um Erkenntnis, sondern immer nur um die richtige Wut geht.
Populismus ist ein Werkzeug, das auf allen Seiten genutzt wird, um Wut zu steuern.
Die „Falschen“ nutzen Populismus? Wirklich? Jene, die ihn anprangern, nutzen ihn genauso. Die Empörungsmaschine läuft in alle Richtungen. Nehmen wir ein Beispiel: Der Satz “Friedrich Merz stimmte gegen die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe” taucht immer wieder auf. Fakt? Ja. Aber nur ein halber. Was nicht erwähnt wird: 1996 hatte er bereits für einen ähnlichen Entwurf gestimmt, der eine umstrittene Widerspruchsklausel enthielt. 1997 kam ein neuer Entwurf – diesmal ohne diese Klausel – und er stimmte dagegen, aus Angst vor Falschbeschuldigungen. Das ist der volle Kontext.
Das bedeutet nicht, dass Merz eine Lichtgestalt ist. Es bedeutet, dass bewusste Verkürzungen Emotionen schüren, nicht Erkenntnis.
Und was passiert, wenn man auf den Kontext hinweist? Er wird weggewischt:
“Ja, Populismus ist kein rechtes Privileg.” Aber es bleibt ohne Konsequenz, weil es den eigenen Populismus nicht infrage stellt.
“Falschbeschuldigungen stören ihn ja heute nicht mehr so, jedenfalls, wenn’s Migrant:innen betrifft.” Ein Argument, das statt Kontext zuzulassen, die Debatte weiter emotionalisiert.
“Und das ändert jetzt genau was?” Die Fakten sind irrelevant geworden – entscheidend ist nur, dass das Feindbild stabil bleibt.
Populismus funktioniert, weil er einfache Antworten auf komplexe Probleme gibt. Er erspart uns das Nachdenken, das Hinterfragen. Und genau deshalb ist er so verführerisch – nicht nur für die anderen, sondern auch für uns selbst.
Medien setzen Empörungsthemen nicht zufällig. Schlagzeilen folgen einer Logik: Emotionalisierung verkauft sich besser als Analyse. Politiker:innen verstärken diese Dynamik, weil Empörung einfacher zu nutzen ist als komplexe Lösungsansätze. Wer wütend ist, denkt nicht nach – er handelt. Und genau darauf setzen sie.
Moralische Empörung führt oft zu demselben Populismus, den sie kritisiert.
Was tun wir, wenn uns etwas nicht gefällt? Wir schlagen mit denselben Mitteln zurück. Wenn der Osten zu viel Blau wählt, wird eine Mauer 2.0 gefordert. Die Ironie? Manch einer hält das für einen legitimen Vorschlag. Und das ist kein Witz, sondern eine ernsthafte politische Forderung. Dass Populismus das eigentliche Problem ist, spielt dann keine Rolle mehr. Denn Wut fühlt sich richtig an. Wut gibt das Gefühl von Macht.
Aber ist es wirklich Macht, wenn sie nur dort kanalisiert wird, wo es gerade ins Narrativ passt?
Empörung fühlt sich nicht nur gut an – sie gibt uns das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Sie schafft eine klare Grenze zwischen den ‘Guten’ und den ‘Bösen’. Und genau deshalb ist sie so gefährlich. Denn wer sich selbst als moralisch überlegen sieht, hinterfragt sich nicht mehr.
Während wir uns über „die anderen“ empören, werden wir selbst zum Spielball. Solange wir uns gegenseitig moralisch übertrumpfen, kämpfen wir nicht mehr gegen die Strukturen – sondern nur noch gegeneinander.
Gesellschaftliche Probleme bleiben bestehen, weil Wut gezielt in Ablenkungsdebatten gelenkt wird.
Warum lassen sich gesellschaftliche Probleme nie lösen? Weil die Wut in den falschen Bahnen gehalten wird.
Skandale wiederholen sich. Politiker stolpern, empörte Wellen schlagen hoch, Konsequenzen bleiben aus.
Mediale Hypes vergehen. Heute Skandal, morgen vergessen. Die eigentliche Struktur bleibt unangetastet.
Empörung gibt Energie. Aber nur, solange sie bequem bleibt.
Solange du wütend bist auf das, was dir vorgesetzt wird, wirst du nie wütend sein über das, was wirklich zählt.
Natürlich gibt es Wut, die nicht künstlich erzeugt wird, sondern aus erlebtem Unrecht entsteht. Wer täglich kämpfen muss, weil das System ihn im Stich lässt, braucht keine medialen Empörungswellen, um wütend zu sein. Aber genau deshalb sollte diese Wut nicht in den falschen Kanälen versickern – sondern gegen das eigentliche Problem gerichtet bleiben.
Nicht nur Debatten, auch Geldströme werden so gelenkt, dass Empörung im Leeren verpufft.
Warum empören sich Menschen über 50 € mehr für Bürgergeldempfänger:innen, aber nicht über Milliarden für Großkonzerne? Weil das Narrativ gesetzt wurde, dass Armut eine persönliche Schuldfrage ist – während große Finanzflüsse bewusst unverständlich gehalten werden. Warum wird ein paar Millionen für soziale Projekte als „unbezahlbar“ dargestellt, während Milliarden für die Industrie geräuschlos durchgewinkt werden?
Warum werden Sozialleistungen minutiös durchleuchtet, während milliardenschwere Subventionen in verschachtelten Finanzstrukturen verschwinden? Weil es kein Zufall ist, worüber Empörung entsteht – und worüber nicht.
Der Schlüssel ist, Wut bewusst zu lenken, statt sich lenken zu lassen.
Natürlich bin ich nicht vor dieser Empörungsmaschinerie gefeit. Ich tappse auch gern in ein Fettnäpfchen. Aber ich reflektiere.
Hallo Wut, herzlich willkommen, komm doch rein, setz dich, lass uns reden.
Und mit der eigenen Wut lässt sich wunderbar reden, wenn man sie erst einmal von allen Stigmata befreit – dass sie böse sei, dass sie hässlich sei. Wut ist ein treuer Freund. Und erst wenn man sich auf sie einlässt, erkennt man ihre Stärke.
Wann hat mich die Empörungsmaschinerie das letzte Mal erwischt? Beim ganzen politischen Kasperletheater. Da könnte ich mich aufregen. Was mache ich? Ich höre mir Sachbücher an. Von Soziologen, Philosophen, über Moral. Ich versuche mir mein eigenes Bild zu machen. Und was ich sehe, ist tatsächlich ein Kasperletheater – und ich schaue genau hin, was sie überspielen wollen.
Also, worüber hast du dich heute empört? Und wer könnte davon profitieren?
Wann hast du das letzte Mal etwas geteilt oder kommentiert, weil du wütend warst? Hast du vorher hinterfragt, ob die Information wirklich vollständig war?
Du hast Lust gleich weiter zu lesen? Vielleicht wäre der Beitrag etwas für Dich: Seid wütend verdammt nochmal!