Gleichberechtigung ist kein Label – sondern eine Haltung
Warum wir endlich aufhören sollten, Feminismus in Schubladen zu stecken
„Emanzipation war für mich so selbstverständlich wie fließendes Wasser.“
Ich bin Ossi. Meine Mutter war alleinerziehend und arbeitete im Akkord. Ich habe mit meinem Bruder und seinen Freunden gespielt, ohne jemals das Gefühl zu haben, weniger wert zu sein.
Für mich war Gleichberechtigung so normal wie Wasser aus der Leitung. Und genau wie Wasser aus der Leitung ein Luxus ist, wurde mir erst später bewusst, dass diese Selbstverständlichkeit nicht für alle gilt.
Damals dachte ich: Wofür kämpfen Feministinnen überhaupt? Wir sind doch längst gleichberechtigt.
Heute weiß ich, wie unfassbar naiv ich war.
Und du? Wann hast du das letzte Mal gedacht, dass wir längst am Ziel wären?
Gleichberechtigung – keine Ideologie, sondern ein Grundprinzip
Für mich geht es nicht um „Frauen gegen Männer“ oder „Männer gegen Frauen“.
Es geht um Gerechtigkeit für alle.
Nicht nur für Frauen. Nicht nur für Männer.
Nicht nur für hetero, cis oder akademisch gebildete Menschen.
Sondern für alle, die benachteiligt werden, weil sie nicht in eine Norm passen.
Gleichberechtigung bedeutet, dass niemand aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Behinderung oder Sexualität weniger Chancen im Leben hat.
Und wenn wir aufhören würden, Begriffe wie Feminismus, Männerrechtler oder Identitätspolitik als Kampfbegriffe zu sehen – könnten wir dann nicht viel mehr erreichen?
Das eigentliche Problem: Warum braucht ein reiches Land unbezahlte Arbeit?
Die Frage ist nicht, ob Frauen oder Männer es schwerer haben.
Die Frage ist: Warum ist unser Wohlstand auf unbezahlter oder schlecht bezahlter Arbeit aufgebaut?
- Warum kostet es eine Familie mehr, wenn beide Eltern arbeiten gehen, als wenn einer zu Hause bleibt?
- Warum werden die wichtigsten Berufe – Pflege, Erziehung, Reinigung – schlechter bezahlt als Schreibtischjobs?
- Warum müssen Menschen ehrenamtlich aushelfen, damit unser Sozialsystem nicht zusammenbricht?
Die Antwort ist brutal einfach:
Weil es billiger ist.
Weil es nichts kosten soll.
Wer profitiert?
- Der Staat. Weil unbezahlte Care-Arbeit Milliarden spart. Weil Ehrenamtliche Lücken füllen, die eigentlich systematisch geschlossen werden müssten.
- Unternehmen. Weil systemrelevante Berufe absichtlich im Niedriglohnsektor gehalten werden.
- Die Wohlhabenden. Weil sie sich private Lösungen leisten können: bessere Kitas, bessere Pflege, besseres Leben.
Und die, die sich das nicht leisten können?
Die schuften. Für Hungerlöhne. Oder umsonst.
Warum bleibt alles, wie es ist?
Weil es nicht „aus Versehen“ so ist.
- Care-Arbeit bleibt unbezahlt, weil sie „Liebe“ sein soll.
→ Wer fordert, dass sie bezahlt wird, wird als herzlos abgestempelt. - Pflegekräfte, Erzieher*innen, Reinigungspersonal verdienen wenig, weil man sie austauschbar hält.
→ Wer streikt, wird als „unverantwortlich“ bezeichnet. - Menschen, die sich für andere einsetzen, tun es oft ehrenamtlich.
→ Weil es keine echte Alternative gibt.
Und die Politik?
Redet über Werte. Über Familie. Über Verantwortung.
Aber nicht über Geld.
Weil Geld alles verändern würde.
Wie könnte ein gerechtes System aussehen?
- Care-Arbeit muss bezahlt werden. Nicht als Almosen, sondern als anerkannte, systemrelevante Arbeit.
- Pflege und Erziehung müssen existenzsichernde Gehälter haben. Wer für andere sorgt, darf selbst nicht in Armut leben.
- Ehrenamt darf keine Notwendigkeit sein. Soziales Engagement ist wertvoll – aber kein Ersatz für ein versagendes System.
- Bildung muss durchlässig sein. Damit nicht nur diejenigen aufsteigen, die es sich leisten können.
Das wäre radikal.
Das wäre echte Gleichberechtigung.
Und genau deswegen passiert es nicht.
Bewerbungen ohne Geschlecht: Ein kleiner Schritt mit großer Wirkung
Stell dir vor, du bewirbst dich – ohne Name, ohne Geschlecht, ohne Foto.
Niemand weiß, ob du eine Frau oder ein Mann bist. Ob du Ali, Anna oder Alexander heißt.
Niemand kann dich unbewusst aussortieren, weil du zu jung, zu alt, zu schwanger oder zu „falsch“ klingst.
Wie radikal wäre das?
Wie fair wäre das?
Studien zeigen: Frauen, Menschen mit migrantischen Namen und Bewerber*innen mit Behinderung werden oft benachteiligt.
Die Lösung? Anonyme Bewerbungen.
Nicht das Geschlecht oder die Herkunft sollte entscheiden – sondern Kompetenz.
Aber klar, dann könnten wir ja nicht mehr sagen:
„Wir haben halt keine qualifizierten Frauen gefunden.“
Die wahre Debatte: Wer verdient an der Ungleichheit?
Es geht nicht um „Frauen vs. Männer“.
Es geht nicht um „links vs. rechts“.
Es geht um die, die profitieren – und die, die es ausbaden.
Gleichberechtigung bedeutet nicht, Frauen an die Spitze der Ungerechtigkeit zu setzen.
Es bedeutet, das System zu hinterfragen, das wenige reich macht – und viele ausnutzt.
Die Frage ist nicht: „Wer hat es schwerer?“
Die Frage ist: „Warum lassen wir das zu?“
Warum echte Gleichberechtigung mit Selbstreflexion beginnt.
Es ist leicht, die Schuld bei „den anderen“ zu suchen.
„Die Männer!“
„Die alten weißen Cis-Typen!“
„Die Feministinnen sind zu radikal!“
„Die Woken übertreiben alles!“
Komm schon. Wann hast DU das letzte Mal jemanden in eine Schublade gesteckt?
Echte Gleichberechtigung beginnt mit uns selbst.
Reflektiere mal:
- Welche Vorurteile hast du?
- Wo steckst du andere in Schubladen?
- Wie oft bewertest du Menschen nach Geschlecht, Alter, Herkunft oder Äußerem – ohne es zu merken?
Wir alle haben Vorurteile.
Aber wir können lernen. Wir können sie hinterfragen.
Und wir können aufhören, uns ständig in Gruppen und Lager zu teilen.
Warum ich trotzdem für Gerechtigkeit kämpfe.
Ich bin keine „klassische“ Feministin.
Ich trage kein T-Shirt mit „The Future is Female“.
Ich zitiere nicht Simone de Beauvoir, um mich intellektuell zu fühlen.
Ich bin nicht wütend auf „die Männer“.
Aber ich bin eine verdammt große Verfechterin von Gerechtigkeit.
Und wenn Gleichberechtigung bedeutet, dass Menschen nicht mehr auf ihr Geschlecht, ihre Herkunft oder ihre körperlichen Fähigkeiten reduziert werden – sondern auf ihre Fähigkeiten, Träume und ihren Charakter – dann bin ich dabei.
Wie ist es mit dir?
Denn Gleichberechtigung ist kein Ziel, das wir irgendwann erreichen.
Es ist ein Weg. Ein Weg, den wir gemeinsam gehen – jeden Tag.
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