Charlotte „Charly“ Smart hatte nicht geplant, ihren Tag damit zu verbringen, in einem überfüllten Zug zu sitzen und die letzten Reste menschlicher Zivilisation zusammenzukratzen. Aber das Leben liebt spontane Herausforderungen – und heute besteht die Herausforderung aus einem Mann mit einem übersteigerten Ego und einem massiven Hörproblem.
Der Zug ist voll. Der Waggon voller Menschen, die sich so tief in ihre Handys und Bücher vergraben haben, dass man meinen könnte, sie würden sich durch bloße Ignoranz in Luft auflösen. Die Evolution hat Menschen beigebracht, aufrecht zu gehen – die moderne Gesellschaft hat ihnen beigebracht, den Blick dabei stets gesenkt zu halten. Aber hey, wer will sich auch freiwillig in ein echtes Problem einmischen, wenn man stattdessen Candy Crush spielen kann?
Charly bemerkt es zuerst nur aus dem Augenwinkel. Eine junge Frau, zusammengesunken auf einem Sitz, den Blick starr auf ihre Hände gerichtet. Direkt neben ihr ein Mann, der sich zu ihr herüberlehnt, als hätte er gerade beschlossen, dass Privatsphäre eine überbewertete Idee sei.
„Ach komm schon, nur ein bisschen Spaß. Tu nicht so verklemmt.“
Die Frau presst sich ans Fenster.
„Nein.“
Der Mann grinst. Ah, das berühmte „Nein“, das für manche Männer wahlweise „Ja“, „Frag noch mal“ oder „Ich will nur, dass du mich überzeugst“ bedeutet.
„Ach komm, sei nicht so. Lächel doch mal.“
Ah, der Klassiker. Frauen, die nicht in Dauerschleife lächeln, sind bekanntlich eine der größten Bedrohungen für den Weltfrieden. Charly zieht sich die Kopfhörer aus den Ohren. Sie sieht sich um. Der Waggon ist voll. Und doch fühlt sie sich allein.
Niemand rührt sich. Niemand sieht hin.
Also tut sie das, was hier anscheinend niemand für nötig hält.
„HEY!“
Der Typ reagiert nicht. Klassische Taktik – einfach so tun, als wäre er schwerhörig.
„HEY! Die Dame hat Nein gesagt!“
Langsam dreht er sich zu ihr um, mustert sie von oben bis unten. Sein Blick ist eine Mischung aus genervt und „Das kann sie doch nicht ernst meinen“.
„Was mischst du dich ein?“
Charly legt den Kopf schief, lächelt ihn freundlich an – so freundlich, dass es fast eine Beleidigung ist.
„Weil Sie sich nicht benehmen können, und wenn das keiner erwähnt, denken Sie am Ende noch, das wäre normal.“
Und dann – plötzlich, aus dem Nirgendwo – eine zweite Stimme.
„Ja, genau. Lass sie in Ruhe.“
Ein junger Mann, Hoodie, Kopfhörer um den Hals, tritt aus dem Gang nach vorne. Jetzt sind sie zwei.
Der Typ sieht sich um. Hofft er auf Unterstützung? Blöd nur, dass der Waggon immer noch das perfekte Beispiel für massenhafte Realitätsverweigerung ist.
„Dumme Zicke“, murmelt er und schiebt sich aus dem Waggon. Vielleicht hofft er, dass er im nächsten eine Frau findet, die aus Dankbarkeit über seine Aufmerksamkeit direkt einen Hochzeitsantrag macht.
Stille.
Die bedrängte Frau atmet schwer. Ihre Hände zittern, als sie nach ihrer Tasche greift. Sie sieht Charly an, ihre Lippen öffnen sich – und dann, leise, fast tonlos:
„Es tut mir leid.“
Charly blinzelt. Das ist das gesellschaftliche Äquivalent davon, wenn dein Haus brennt und du dich entschuldigst, dass die Feuerwehr kommen musste.
Sie schüttelt den Kopf.
„Sie haben sich für gar nichts zu entschuldigen.“
Die Frau nickt hastig. Sie steht auf, will nur noch weg, verschwindet aus dem Waggon.
Und jetzt? Jetzt kommt die eigentliche Krönung.
Charly sieht sich um. Kein einziger Blick hebt sich.
Kein Dank, kein erleichtertes Nicken, nicht mal ein verstohlener Blick voller Schuld.
Alle starren auf ihre Handys, ihre Füße oder in eine Parallelwelt, in der das alles nie passiert ist.
Aber Charly ist nicht in der Stimmung für kollektive Realitätsflucht.
Sie lässt den Blick durch die Reihen gleiten, lässt sich Zeit. Dann spricht sie laut und klar:
„Sie haben das gesehen. Alle. Und Sie haben nichts getan. Wissen Sie, wie Gewalt unsichtbar wird? Durch Leute wie Sie, die so tun, als gäbe es sie nicht. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind jetzt offiziell Teil des Problems.“
Schweigen.
Ein Mann räuspert sich, eine Frau rutscht auf ihrem Sitz hin und her. Aber der Boden bleibt faszinierend.
Dann – die Ausrede des Jahrhunderts.
„Ja, aber man hat ja Angst. Heute hat ja jeder ein Messer dabei.“
Charly dreht sich um. Eine Frau, Mitte fünfzig, spricht, ohne den Blick zu heben.
Charly legt den Kopf schief.
„Ach so? Wer ist jeder?“ Sie hebt eine Augenbraue. „Ich hab keins dabei.“
Die Frau sagt nichts mehr. Niemand sagt mehr etwas.
Der Zug rattert weiter. Die Menschen starren auf ihre Handys, auf ihre Füße, in die Leere.
Aber Charly weiß, dass ihre Worte sich in ihren Köpfen festsetzen werden.
Später, im Büro…
„Charly, ich verstehe ja deine Haltung, aber es gibt Menschen mit Angststörungen. Die können nicht einfach so eingreifen.“
Charly sieht ihren Kollegen Winter an. Ah, das große „Nicht jeder kann helfen“-Argument.
„Ja. Das stimmt. Und ich sage auch nicht, dass jeder in eine körperliche Konfrontation gehen soll. Aber die meisten Leute, die wegsehen, haben keine Angststörung – sie haben einfach keinen Bock, sich zu involvieren.“
Winter zieht die Augenbrauen hoch. „Jetzt wirst du aber unfair.“
„Nein, ich werde präzise. Es gibt unzählige Möglichkeiten, zu helfen, ohne sich in Gefahr zu bringen. Laut werden. Andere ansprechen. Die Polizei rufen. Aber stattdessen tun die meisten – nichts.“
Winter seufzt. „Es ist halt nicht so einfach.“
Charly lehnt sich zurück. Da ist sie. Die ultimative Ausrede.
„Doch, Winter. Es ist so einfach. Man hilft – oder man schaut weg. Und wer wegschaut, gibt dem Täter Rückendeckung.“
Winter blickt in seinen Kaffee.
Charly nimmt einen Schluck von ihrem eigenen und lehnt sich zurück. Kaffee soll ja bekanntlich bittere Wahrheiten besser runterspülen – aber heute könnte das schwierig werden.
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