Stell dir vor, Du bist ein Schmuddelkind aus der Platte an der polnischen Grenze auf. Du wächst frei und wild auf, aber andere Eltern wollen nicht, das du mit ihren Kindern spielst. Manche Kinder halten sich daran, andere nicht. Du bist ein Außenseiter.
Stell dir vor auf deinen Streifzügen hast du alle Baustellen erkundet, du bist auf den Kirchturm geklettert und hast die Glocke geläutet, die Polizei hat dich nach hause begleitet. Du bist auf einen Kran geklettert und ihr habt euch in einem verfallenen Schweinestall mit Eisenringen in den Wänden und Ketten daran Gruselgeschichten erzählt. Du kennst das unterirdische Netz des Stadtbezirks auswendig, weil ihr durch Kellerfenster oder Gully-Deckel in den I-Gang geklettert seit.
Mit 13 Jahren lernst du auf Lunge rauchen, schmuggelst du, die als einzige einen Kinderausweis hat, billige Mars-Zigaretten stangenweise über die Grenze. Die Schule wird immer uninteressanter für dich und wenn du schon mal da bist, fliegst du in den ersten 10 Minuten aus der Klasse. Innerhalb des ersten Monats eines neuen Schuljahres hast du stehst du vor der Klasse und dein zweiter Verweis wird ausgesprochen. Du verstehst nicht, was es bringen soll, vor der Klasse zu stehen. Du empfindest keine Scham, du empfindest auch keine Reue. Es ist dir egal. Du bist dir egal. Du bist prall gefüllt mit Gleichgültigkeit.
Du ziehst mit deiner Freundin durch die Stadt auf Klau-Tour. Wieder zurück klaut ihr im SB-Markt eine Flasche Kellergeister und ihr setzt euch auf eine schattige Friedhofsbank und trinkt.
Einmal trefft ihr auf dem Heimweg einen Alkoholiker und ihr trinkt zusammen bei Sommerhitze Wodka. Du erwachst im Krankenhaus. Alkoholvergiftung. Du hast keine Erinnerungen. Alles ist taub und schummrig. Zwei Freunde kommen vorbei und ihr geht auf Streifzüge durch das Krankenhaus und plündert erstmal einen Kühlschrank. Bald bist du wieder draußen. Du hast deine Familie bestätigt, das du ein Versager bist und der Alltag zieht wieder ein.
Bald werdet ihr von der Rote Grab Clique entdeckt und du steigst von Kellergeister auf Sauren Apfel um. Du gehst völlig betrunken in einen Friedhofsbrunnen baden und Leute bringen dich nach Hause. Sie klingeln an der Tür und rennen weg. Vermutlich sagte meine Mutter, ich solle nicht mehr trinken. Doch das habe ich überhört. Es gab keine Konsequenzen.
Stell dir vor, du bist mal hier, du bist mal da. Leute kommen und Leute gehen. Du bist ständig unterwegs. Im Sommer steigt ihr Nachts im Freibad ein, im Herbst brecht ihr eine Hütte im Pionierpark auf und ihr zockt ein ferngesteuertes Auto. Das wiederum wird euch von anderen Raudis an der Straßenbahnhaltestelle gezockt.
Es gibt viele Schlägereien. Den einen Abend saufen Punks und Nazis miteinander, am anderen Abend hauen sie sich gegenseitig die Zähne ein. Und dazu kommen noch die Polen, die sich auch gern prügeln. Eines Tages, du weißt gar nicht, wie es dir geschieht, rutscht du in eine ganz krude Clique. Stell dir vor, die Kerle, mit denen du jetzt abhängst waren alle schon in der Jugendvollzugsanstalt. Sie sind gewalttätige Alkoholiker, klauen Autos und überfallen die Kneipe, die in dem Block ist, wo sie wohnen und sie verdreschen ihre Freundinnen. Und deine Gleichgültigkeit macht einen Moment deiner Vernunft platz. Und du nimmst deine Beine in die Hand und drollst dich eiligst zu nächsten Clique.
Stell dir vor, das mittlerweile ein Klassenkamerad deines Bruders bei euch wohnt, weil er zu Hause von seinem Vater verprügelt wird. Deine Mum sagt nur erschöpft, sie kann nicht noch einen Jungen durchfüttern. Von da an bringt er sein Essen mit. Dich interessiert es nicht. Dein neuer Bruder ist ruhig und unauffällig. Und zu Hause bist du eh kaum.
Du bist immer auf Achse, oft pennst du bei Freundinnen und einmal in einem besetzten Haus. Aber da ist es kalt, es gibt kein Klo und darauf hast du keinen Bock.
Du wirst älter und in der achten Klasse bleibst du sitzen. Ein Zeugnis deines Versagerlebens. Dein Leben verliert immer mehr an Perspektive. Es gibt keine Konsequenzen. Die einzigen Grenzen, die du kennst, setzt du dir selbst. Und deine Gleichgültigkeit legt immer weiter ihren Mantel um deine Moral und deine Vernunft.
Und nun stell dir vor, eines Tages kommst du zu einer Kinder- und Jugendfarm, einen Treff mit Bauwagen zum abhängen und Grundstück, wo Kiddies Hütten bauen können und Sozialarbeiter nach dem rechten schauen. Stell dir vor, du freundest dich sofort mit einem Typen an, der dort schon länger ist. Und ihr baut zusammen einen Kiosk, der so geil ist, das einer der übleren Raudis ihn als Besitz beanspruchen will. Aber stell dir vor, das ist ein Ort, da wird sich nicht geschlagen. Der Typ, der mir in früheren Zeiten schon einmal die Nase blutig geschlagen hat, wird gewaltlos des Ortes verwiesen.
Du hast das erste mal im Leben etwas vor. Die Sozialarbeiter fragen dich, wie es dir geht. Und freuen sich, wenn du mit einem Buch in der Ecke sitzt. Das erste mal in deinem verfickten Leben ist jemand aufmerksam um dich.
Aber auch hier ist es ein kommen und gehen. Ein undurchsichtiges Geflecht, in dem alte Bekannte immer wieder zwischen neuen Gesichtern auftauchen. Einige der Leute kiffen. Das ist nicht dein Ding. Sie drängen sich dir auf und du sagst, wenn, dann würde ich nur mit Indianern während einer Zeremonie Drogen nehmen. Eine Woche später gab es eine Indianerparty. Alle sahen aus wie Hippies. Du ziehst am Bong, nimmst einen Zug vom Joint und dann verziehst du dich. Das Zeug lässt dich den Kontakt zu deinem Körper verlieren. Du schwebst nahezu zu der Schaukel und setzt dich darauf, damit dein Gehirn mit deinen Gefühlen im Gleichklang bleibt.
Stell dir vor, das ist das erste mal in deinem Leben, das du bewußt eine Entscheidung triffst. Soll deine Gleichgültigkeit einer anderen Gleichgültigkeit Platz machen? Oder nimmst du dein Leben in die Hand?
Du säufst kaum noch und klaust kaum noch und du bringst mit deinem Kumpel eine Kinder- und Jugendzeitschrift raus. Die Sozialarbeiter unterstützen euch dabei. Und du gehst wieder regelmäßig zur Schule und holst dir deinen Abschluss.
Stell dir vor, deine Familie hält dich für einen Versager. Stell dir vor Du wärst diese gleichgültige Jugendliche. Glaubst du, du hättest keine Chance verdient?
Stell dir vor, manchmal sind Sozialarbeiter die ersten, die an dich glauben und dir eine Chance geben.
Mein Debüt ist eine Hommage auf sie.
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