Es war Sommer.
Ich erinnere mich nicht an erdrückende Hitze und ins Schwitzen kam ich erst später.
Es war ein normaler Tag.
Ich saß im Büro, ging meiner Arbeit nach und ahnte keine besonderen Vorkommnisse.
Da kam eine Nachricht. Nicht per Eule oder unter verschlossener Bürotür durchgeschoben. Sie kam unbeeindruckt per Outlook.
Ich öffnete das Postfach. Es war eine interne Info-Mail und da weder meine Ablage noch meine To-do-Liste einem Tsunami drohte, las ich in Ruhe den Firmen-Spam mit der Überschrift: Firmenlauf zur Spätschicht. Laufen für eine gute Sache.
Ich starrte auf den Monitor. In meinem Kopf knacksten die Synapsen.
Laufen kann ich, bereits seit Jahrzehnten. Und mit so etwas Alltäglichem leistet man Gutes?
Ich dachte nicht weiter nach, klickte auf antworten und schrieb: Ich bin dabei.
Von Aufregung getrieben musste ich das gleich meinen Kollegen und Kolleginnen kundtun.
Vor meinem geistigen Auge sah ich uns schon, über fünfhundert Leute, die für eine gute Sache liefen. Ich rechnete auf ihre freudige Unterstützung.
Aber wie so oft im Leben war ich wieder einmal über eine unsichtbare Grenze hinausgeschossen. Meine vermeintlichen Mitstreiter und Mitstreiterinnen reagierten etwas verhalten. „Laufen bedeutet rennen, meine Liebe“, zügelten sie meinen euphorischen Rausch.
Ich musste schlucken. Um ehrlich zu sein, war mir das in meiner Anfangseuphorie gar nicht bewusst: Laufen bedeutet rennen.
Es machte wohl einen Unterschied, ob ich 5,2 Kilometer spazierte oder rannte. Mit Joggen hatte ich nichts am Schuh. Egal, es war für eine gute Sache. Und joggen ist doch nur etwas schnelleres spazieren.
Da meine Gedankenwelt eher robuster Natur ist, konzentrierte ich mich auf Schuhe: Ich brauchte Laufschuhe. Und weil konsumieren beruhigt, kaufte ich auch einen Sport-BH. So sehr sich meine Gedanken auf die Vorfreude des anstehenden Abenteuers richtete, genauso verunsicherte mich, ganz tief im hinteren Hirnstübchen, die Ablehnung meiner Kollegen und Kolleginnen; waren sie doch allesamt ständig beim Sport und ich war die gewesen, die sich wehrte, mitzugehen. Wussten sie etwas, das ich nicht wusste?
Der Unmut kroch in die Untiefen meiner Hirnwindungen und am Abend besprach ich mein Vorhaben mit einem guten Bekannten, der Ultra-Marathon lief.
Sein Tipp klang gut: „Langsam anfangen, mit Pausen dazwischen.“
Ich hatte drei Wochen Zeit, das sollte mir doch gelingen. Oder innerer Schweinehund, was meinst du? Komm runter von der Couch, wir gehen joggen.
Die Zeit verflog und mein Gehirn hatte das Aktivitäten-Areal auf Pause gesetzt. Vielleicht hätte ich mein Schweinchen mit einem Stirnband ködern können. Trägt nicht jeder erfolgreiche Sportler ein solches? Also zumindest Tennisspieler. Das hatte ich in meiner Kindheit im Fernsehen gesehen. Ich erinnere mich nicht, warum ich es mir anschaute; Sport ist eigentlich nicht mein Ding. Es muss meinem Bruder gefallen haben.
Und schon waren die drei Wochen vorüber und ich lief in Summe keine 5,2 Kilometer. Aber mein Kampfgeist war ungebrochen, war es doch nur ein oller Lauf. Was sollte da schon passieren; entweder ich schaffte es oder eben nicht. Mitmachen ist alles.
Ach, wie naiv ich sein kann. Niedlich, oder?
Aber eins nach dem anderen.
Da war er nun, der Tag der Tage. Der Tag, an dem ich mich wie eine Sportgöttin aus der Asche erhob. Mit Sport-BH und Laufschuhen gewappnet stürmte ich aus dem Büro zum Ort des Geschehens. Da standen sie, meine Kollegen und Kolleginnen, wie Adonis und Nike, mit modellierten Muskeln.
Wir bekamen Firmen-Lauf-Shirts und es wurde eifrig ausgetauscht, wer, wo und wie viel Kilometer in welcher Zeit läuft.
Da waren sie, meine Zweifel, sie krabbelten wie Hauswinkelspinnen aus meinen Ohren. Im Magen wurde es flau. Ich musste diesen Lauf vollkommen falsch interpretiert haben. Diese Leute hier waren Sportbesessene. Ich bekam es mit Dämonen zu tun, wurde äußerlich immer ruhiger, innerlich brodelte es.
Die Kollegen und Kolleginnen kannte ich nicht wirklich. Den einen hatte ich mal auf dem Flur gesehen, andere waren mir total unbekannt. Ich könnte einfach verschwinden und niemand würde es bemerken.
Wie dumm nur, das Aufgeben nicht zu meinen Kernkompetenzen gehört. Natürlich hätte ich eine Ausnahme machen können, aber ich wusste ja zu diesem Zeitpunkt nicht, wie sich diese Geschichte weiterentwickelte. So nahm das Drama seinen Lauf.
Die Firmen starteten versetzt. Mein Herz überschlug sich schon vor dem ersten Schritt.
Endlich erreichten wir den Start, wo eine neue Überraschung sich einreihte. Zwei unserer Vorstandsmitglieder machten mit. „Und als Firmenlauf laufen wir auch zusammen durchs Ziel.“ Mein Kopf surrte: Es tut mir leid, es tut mir so furchtbar leid, als wir starteten. Ich fühlte mich wie in einer gallertartigen Zwischendimension gefangen, gegen die ich anrannte. Und als Schlusslicht wurde mir schwindelig, als vor mir ein Adonis lief, der es zu Mittag sehr großzügig mit Knoblauch meinte. Hatte ich schon meine empfindliche Nase erwähnt?
Atme, atmen nicht vergessen.
Ich bewegte mich in einer stoischen Ohnmacht, nur in Blitzlichtern nahm ich meine Umwelt wahr. Der eine Vorstandsmitglied war sehr angetan von meinem Kampfgeist, ohne Kondition beim Lauf dabei zu sein. Es sollte mehr geben wie mich, die Mut zeigen, die Mitmachen, die über sich hinauswachsen. Er wurde ganz überschwänglich und bildete mit mir und zwei Praktikantinnen, die mich unterstützen wollten, das Schlusslicht.
In Gedanken ergänzte ich seine Lobhudelei mit: Personen, die naiv sind und nicht nachdenken wollen.
Atme, atmen nicht vergessen.
Bei einer Brücke, über die wir den Fluss überqueren mussten, hätten wir die Hälfte der Strecke geschafft, so wurde es erzählt. Und da war sie schon, die Brücke. Ich wurde euphorisch. Vergaß das Atmen. Ich sah sie, die Brücke.
Den Weg schaff ich auch zurück. Das war ja ein Kinderspiel. Ein breites Grinsen schob sich an meiner Anspannung und Anstrengung vorbei. Doch wir rannten an der Brücke weiter. Das musste ein Missverständnis sein. Ich schaute mich um, die Brücke um Hilfe suchend an.
Wir laufen zu weit. Ich keuchte: „Brü… cke.“
Eine Mitläuferin flötete unbeeindruckt: „Nein, nein, es ist die vierte Brücke, ich habe es auf Google Maps nachgeschaut.“
Firma für Firma zogen an mir vorüber.
Ich starrte nach vorn. Ich sah keine weitere Brücke.
Das Vorstandsmitglied scherzte, als er seinen Hightech-Sportsaktivitäten-Chronometer konsultierte, wie weit wir denn schon gelaufen waren: Neunhundert Meter.
Vor meinen Augen wurde es schwarz. Der Atem blieb mir in den Lungenflügeln stecken. Ich schaute nach hinten. Wir hatten noch nicht einmal einen Kilometer geschafft?
In meinem Kopf flackerte es und der Autopilot sprang an.
Atme, atmen nicht vergessen.
In meinem unterversauerstofften Gehirn verkurzschlussten meine Gedanken.
Ein Team Kurz-vor-dem-Ruhestand überholte uns. Ich verlangsamte meinen Schritt, wollte mich zurückfallen lassen. Zurück zur Brücke Nummero Eins flüchten, um dort den Fluss zu überqueren und hinter einem Busch auf mein Team zu warten, in das ich mich frischen Atems einreihen könnte. Rückblickend finde ich diesen Plan noch heute sehr erstrebenswert, nur würde meine Abwesenheit nach dem tölpelhaften Überholvorgang allzu schnell auffliegen.
Hatte ich schon erwähnt, was meine Kollegen und Kolleginnen veranstalteten? Sie rannten hundert Meter vor und wieder zurück, hundert Meter vor und wieder zurück, ich fühlte mich wie eine Stop-Motion-Animation. Was wäre passiert, wenn ich abhandengekommen wäre? Hätte es ihren Sportsgeist angespornt? Wie ein Rudel Jagdhunde hätten sie mich gestellt und zum Weiterlaufen angekläfft. Ich schüttelte diese angsteinflößende Vorstellung von mir ab, da waren sie wieder eingereiht, meine treuen Gefährten und Gefährtinnen.
Ich keuchte: „Wie … weit?“
Gedämmt nahm ich ihre Worte wahr: „Schon 1,3 Kilometer.“
Sie drehten ihren Motivationskanal auf, säuselten und flöteten freudig vor sich hin.
Meine weiteren Kollegen und Kolleginnen, die nicht auf meiner Höhe blieben, mussten bereits einen Halbmarathon bewältigt haben. Ich setzte einen Fuß vor den anderen.
Atme, atmen nicht vergessen.
Und irgendwann kam sie: die Brücke. Die Brücke, über die wir den Fluss überquerten. Der Fußgängerweg war sehr schmal, sodass wir hintereinander laufen mussten.
Hinter uns die nächste Firma. Sie drängelten nicht, aber ich wollte sie auch nicht ausbremsen, so einigten wir uns, dass mich einer von ihnen leicht anschob. Die Brücke war wie im Rausch vorüber und tatsächlich habe ich an den Rückweg keinerlei Erinnerung mehr.
Ich muss weiter geatmet und einen Schritt vor den anderen gesetzt haben, sonst könnte ich diese Geschichte jetzt nicht erzählen.
Kurz vor dem Ziel setzen meine Bilder wieder ein. Ich sehe sattes Grün, eine Wiese und wie ich mich, auf meine Knie gestützt vor Anstrengung übergab. Ich weiß nicht, ob ich den Schuh des Vorstandmitgliedes erwischt hatte.
Da wurde der Plan geschmiedet, wir laufen nicht nur gemeinsam durchs Ziel. Nein, wir laufen zusammen mit erhobenen Armen über die Ziellinie. Meine Hände sollten rechts und links hochgehalten werden von je einem Vorstandsmitglied. Für das Siegerfoto, versteht sich. Keine Ahnung was der Typ für einen Film vor Augen hatte. Ich war zu schwach und ergab mich, nach meiner letzten Mahlzeit, nun meinem Schicksal.
Mir war alles egal.
Atme, atmen nicht vergessen.
Und so überquerten wir die Ziellinie, mit erhobenen Handgelenken.
Was soll ich sagen, ich war berauscht von dem sagenumwobenen Runner’s High.
Welch Euphorie, welch Hochgefühl.
Ich trank ein isotonisches alkoholfreies Bier und fuhr breit grinsend nach Hause.
Mein Ultra-Marathon-laufender guter Bekannter feierte mich, weil ich mich übergeben hatte. Er schien schon fast neidisch. Das hieße doch, dass ich über meine Grenzen hinausgelaufen sei. Na ja, diese Sportler werde ich wohl in meinen jetzigen Leben nicht mehr verstehen, beziehungsweise verstehen wollen.
Aber ich legte mich an diesem Abend als Heldin ins Bett.
Am nächsten Morgen wurde ich mit Spannung im Büro empfangen.
Meine Beine brannten. Wie in einem Albtraum, in dem man nicht von der Stelle kommt, zog ich mich am Geländer die Treppen hoch. Ein Fuß vor den anderen setzend.
Ich musste meine Geschichte erzählen, wieder und wieder. Jedes Detail, an das ich mich erinnerte. Umso peinlicher, umso amüsanter. Ach haben wir gelacht.
Dann kam die nächste Überraschung. Im Laufe des Tages tauchte mein Fan – das Vorstandsmitglied in meinem Büro auf. Er erkundigte sich, wie es mir gehen würde. Taufrisch natürlich, als sei nichts geschehen. Zum Glück saß ich auf meinem Bürostuhl, im Stehen hätte er meine zitternden Beinmuskeln nicht übersehen können. Und ich scherzte natürlich, wann sei der nächste Lauf, ich wäre dabei.
Meine Bürokollegen und -kolleginnen staunten bei dem hohen Besuch und umringten mich. Das nächste Mal liefen sie auch mit, wenn es so eine Anerkennung aus den höheren Etagen dafür gäbe. Nicht aus Überzeugung, sondern um gesehen zu werden.
Natürlich wusste ich, dass ich beim folgenden Lauf nicht dabei wäre. Zumindest nicht für diese Firma. Aber das würde ich erst in einer Woche bekanntgeben.
Welch schöne Geschichte, könnte der Leser oder die Leserin meinen. Es ist eine eindringliche Erinnerung an Mut und Durchhaltevermögen, an Zusammenhalt und Kameradschaft.
Doch dem aufmerksamen Lesenden wird aufgefallen sein, dass ich meist nur von dem einen Vorstandsmitglied erzählte. Dem anderen war ich zuwider. Er wollte nichts mit meiner Schwäche zu tun haben, nur konnte er das bei einem Lauf für die gute Sache nicht zugeben. Und so wie ich, konnte auch er sich nicht entziehen.
Eine Woche später habe ich meine Kündigung eingereicht. Einfach aus dem Grund, weil mein Vorgesetzter mir nichts zugetraut hat. Jedes Mal wenn ich an seine Bürotür klopfte und um mehr Verantwortung bat, gab er mir mehr sinnbefreite Aufgaben.
Ich blicke mit einem Schmunzeln zurück. An eine verrückte Fahrgemeinschaft, die aus der Not heraus gegründet wurde, an all die fabelhaften Menschen, die ich durch meine chaotischen Einfälle kennenlernen durfte. Und wie ich in den Mittagspausen das Büro des Betriebsrates stürmte und rief: „Was kann ich tun, um meinen Chef zu ärgern?“
Aber das ist ein anderes Kapitel meines Lebens.
Diese Geschichte hat mich gelehrt, auf meine weltlichen und sozialen Anschauungen und Impressionen zu achten. Wenn ich von etwas überzeugt bin, muss dabei weder Geld noch Ruhm für mich rausspringen. Setze ich mich dafür ein, mit Feuer und Flamme, so bringt es immer etwas mit sich. Energie kann nicht verloren gehen. Sie verschwindet nicht, sie verwandelt sich in eine andere, in etwas Neues.
Heute bin ich meine eigene Chefin. Schritt für Schritt bin ich gegangen. Stolpern und Scheitern gehört dazu, auf meinen eigenen Weg. Fehler sind Wegweiser zum Ziel. Jede versuchte Abkürzung hat einen Umweg nach sich gezogen.
Aber das wichtigste ist: Atme, atmen nicht vergessen.