Sie war 15, als sie sich dazu entschloss. Süße 15 Jahre.
Heute, an ihrem 15. Hochzeitstag, wähnt sie sich immer noch in einem Traum, als sie ihn neben sich liegen sieht. Er ist ein treuer Mann, ein fürsorglicher Vater. Er ist erfolgreich. Und er liebt sie. Ja, er liebt sie, und sie ihn. Sie kann ihr Glück nicht fassen.
Wie ein Traumwandler schleicht sie in das Bad. Ihr Spiegelbild reflektiert eine Elfe. Große braune Augen. Die schmale geschwungene Nase verweist auf einen kleinen Schmollmund mit vollen Lippen. Die zerzauste Kurzhaarfrisur betont ihre kleinen, hübsch geformten Ohren.
Sie muss sich kneifen, um sich zu überzeugen, dass sie nicht träumt.
Mit 15 Jahren hat sie sich entschlossen. Mit 18 Jahren hat sie ihren Prinzen kennengelernt. Da hatte sie diese schmerzhafte Zeit bereits hinter sich gelassen.
Sie lächelt in den Spiegel. Ebenmäßige Zähne, aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur, strahlen ihr entgegen.
Aber es hat sich gelohnt.
Es ist ein wunderbarer Tag. Während ihre Familie noch im Schlaf liegt, richtet sie ein prachtvolles Frühstück. Für ihren geliebten Mann, dem sie vor genau 15 Jahren ewige Treue geschworen hat und ihre zwei lieben Kinder.
Der Geruch von Blaubeer-Pfannkuchen und frischem Kaffee zieht in den Flur hinaus und erweckt das Haus zu Leben.
Sie sitzen gemeinsam am Tisch. Die Vögel im Garten begrüßen zwitschernd einen perfekten Sommertag.
Ihr Mann fährt mit der weißen Stoffserviette über seinen Mund. Er fesselt sie mit seinem Blick und lässt sie nicht wieder los. Ihr Herz klopft. Ihre Wangen werden rosig vor Glück.
Sein Blick reist durch ihr Gesicht und inspiziert ihre Züge. Dann betrachtet er die Kinder. Erst den Sohn. Dann die jüngere Tochter. Dann wieder seine Ehefrau.
Ohne den Blick von ihr abzuwenden greift er in die Innentasche seines Jacketts. Ihre Augen funkeln. Er hat daran gedacht! Keinen Moment hat sie daran gezweifelt. Es kann kein größeres Geschenk geben, als ihn an ihrer Seite zu wissen.
Er holt ein Kuvert aus dem Jackett und reicht es ihr.
Was mag das sein? Ein Liebesbrief? Ein Gutschein für ein Wochenende in Paris? Der Fahrzeugschein eines Cabriolets?
Sie nimmt den Umschlag entgegen und drückt ihn an ihr Herz.
Er wendet seinen Blick von ihr ab und beobachtet die Kinder, wie sie wie Ferkelchen die Eierkuchen verschlingen.
Auch sie betrachtet liebevoll ihre Kinder, bevor sie den Umschlag öffnet und die Bögen herausnimmt.
Sie starrt lang auf das Papier. Ihre Hände zittern. Eine Ewigkeit vergeht. Eine Träne fließt ihr über die Wangen und spült jede Farbe aus ihrem Gesicht.
Sie schaut ihn an. Sie schüttelt ihren Kopf. Ihre Augen sind gerötet, die zarten Wangen aschfahl. Ihre kleinen Ohren glühen.
„Warum?“
Er steht auf und geht zum Fenster. Vor ihm entfaltet sich ein prachtvoller Garten. Schmetterlinge statten der Blütenpracht einen Besuch ab. Einer Blüte nach der anderen. Untermalt ist das Traumbild von klaren Vogelstimmen.
Sie starrt auf das Papier. Ihre Hände zittern. „Warum?“
Er starrt auf den Apfelbaum im Garten. Nicht mehr lange und seine stattliche Krone wird das Haus überragen.
Sie weiß noch, wie sie ein zartes Bäumchen pflanzten. Es war der erste Geburtstag des Sohnes. Und nun fällt ein Schatten auf ihr Haus und bringt Dunkelheit in ihre perfekte Welt.
„Kinder, geht auf eure Zimmer.“
Es sind gehorsame Kinder, ohne Zweifel.
Beinahe lautlos verlassen sie das Zimmer. Sie gehen mit einem lauen Lüftchen, bevor der Sturm losbricht.
Am Esstisch bleibt sie wie ein gebrochenes Pflänzchen zurück, den Kopf in den Händen versunken. Schluchzend. Zweifelnd.
„Aber warum nur?“ Schluchzen.
Er dreht sich zu ihr um. „Sieh mich an.“
Sie nimmt die Hände vom Gesicht. Die Augen sind geschwollen. Die Haut rot-fleckig. Das Kinn zittert.
Er betrachtet sie, als habe er sie noch nie gesehen.
„Wie schön du doch bist.“ Er schaut wieder zu dem Apfelbaum. „Wir hätten so glücklich sein können. Und hätten ein glückliches Leben führen sollen.“
„Aber…“, sie versucht, dem Schluchzen eine Stimme zu geben, „aber wir sind doch glücklich!“
„Du hast mich betrogen.“
„Nein.“
„Du hast mich all die Jahre betrogen.“
„Wie …“, sie schüttelt ungläubig ihren Kopf, „… wie kommst du darauf.“
„Schau dich doch an.“ Er atmet schwer ein. „Schau dich an. Du siehst aus wie ein Engel.“ Die Handflächen auf dem Fensterbrett abgestützt, starrt er in den Garten, der Eden sein sollte. „Wie ein unschuldiger Engel.“ Er senkt seinen Kopf und schüttelt ihn. „Du bist so wunderschön.“
Sie fährt sich mit den Händen übers Gesicht. Ihre Nase läuft. Das Atmen fällt ihr schwer. Ihre Schluchzer werden heftiger. „Ich habe dich nicht betrogen.“ Wieder vergräbt sie ihr Gesicht in den Händen. Sie schüttelt ihren Kopf.
„Nein. Neiiiiiin.“
„So schön … und dann schau dir die Monster an, die du geboren hast.“
Seine Fingerspitzen färben sich weiß, als sie sich in die Fensterbank krallen.
„Wie kann eine so schöne Frau zwei solch hässliche Kinder zur Welt bringen?“
Er atmet mehrmals tief ein.
„Pack deine Sachen, nimm deine Bastarde und verschwinde aus meinem Haus!“
Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, verlässt er die Küche. Er verlässt das Haus. Er verlässt ihr gemeinsames Leben.
Sie schaut auf die Scheidungspapiere.
Sie war 15 gewesen, als sie sich dazu entschloss. Süße 15 Jahre, bei ihrer ersten OP. Zunächst waren ihre Ohren verkleinert und angelegt worden. Darauf folgte die Korrektur der schiefen Nase. In ihrem Gesicht wurde das Jochbein gebrochen und der Kieferknochen abgeschliffen. Die Zähne in Reih und Glied gezwungen. Nicht etwa aus medizinischen Gründen, nein, sondern nur, um einem Schönheitsideal zu entsprechen.
Es ist der 15. Hochzeitstag. Die Kristallhochzeit in Scherben.