Du bist zu Hause, er sitzt dir gegenüber, das Buch in seiner Hand. Der Titel glitzert im schrägen Sonnenlicht, das durch die Fenster fällt. „Das ist doch nichts als ein langweiliger Klischeekitsch“, sagst du, halb grinsend, halb provokant. Du weißt, er mag es nicht, wenn du seine Bücher kritisierst, aber diesmal siehst du nur, wie seine Augen blitzen.
Es geht so schnell, dass du erst gar nicht realisierst, was passiert ist. Seine Hand trifft deine Wange. Nicht hart, aber heftig genug, dass du zusammenzuckst. Aus Reflex, fast wie in einem Traum, hebst du deine eigene Hand und scheuerst ihm eine zurück. Stille. Du hörst das Summen des Kühlschranks im Nebenraum. Dein Atem geht schneller, sein Gesicht erstarrt.
„Das wagst du nicht nochmal“, zischt er und steht auf. Die Spannung in seinem Körper ist greifbar, bedrohlich.
Die Tage danach sind wie ein Puzzle, das du nicht lösen kannst. Er fängt an, deine Fehler aufzulisten, Stück für Stück, als wären sie Teile eines Bildes, das nur er sehen kann. „Die Wäsche nicht richtig gemacht.“ „Das Essen ist versalzen.“ „Warum machst du immer alles falsch?“ Die Liste wächst, und mit jedem neuen „Puzzlestück“ fühlst du, wie du dich auflöst. Wie Risse durch dich ziehen, Stück für Stück, bis du das Gefühl hast, auseinanderzubrechen.
„Ohne mich wärst du nichts“, sagt er eines Abends, als du dich bei einem Missgeschick entschuldigst. Du nickst, weil es leichter ist, als zu widersprechen. Doch tief in dir beginnt etwas zu rumoren. Du weißt, dass das Bild, das er von dir zeichnet, nicht deins ist.
Es gibt Nächte, in denen du aufwachst und die Teile in deinem Kopf neu sortierst. Erinnerungen an die Frau, die du warst – mutig, laut, frei. Doch sie fühlen sich an wie verlorene Puzzlestücke, die irgendwo unter den Teppich gerutscht sind. Unerreichbar.
Aber es gibt auch Momente, in denen du wieder atmen kannst. Du beginnst, dich zurückzuziehen. „Ich muss mal an die frische Luft“, sagst du und gehst spazieren, allein. Die Ruhe fühlt sich an wie ein heilender Balsam. Wenn er fragt, ob ihr zusammen etwas unternehmen wollt, findest du Ausreden. „Ich habe schon etwas vor.“ „Vielleicht ein anderes Mal.“ Jede Minute, die du für dich hast, fühlt sich an wie ein Stück Freiheit, das du dir zurückholst.
Je mehr du dich zusammensetzt, desto klarer wird dir, wie zerbrochen er selbst ist. Seine Tyrannei, seine Kontrolle, sein ständiges Bedürfnis, dich klein zu halten – es zeigt seine Unsicherheit, seine Angst. Doch in dir wächst die Erkenntnis: Es ist nicht deine Aufgabe, ihn zu reparieren. Seine Brüche sind nicht deine Last. Du hast genug damit zu tun, dich selbst wieder zusammenzusetzen.
Dann stehst du eines Abends vor dem Spiegel. Dein Gesicht ist blass, deine Augen leer. Doch in deinem Inneren hat sich etwas verändert. Die Puzzleteile, die er dir aufgedrängt hat, liegen nicht mehr auf dem Tisch. Stattdessen hältst du die deinen in der Hand – die Teile, die zu dir gehören.
Du setzt sie langsam zusammen, und plötzlich siehst du es: ein Bild, das dich zeigt. Nicht so, wie er dich gezeichnet hat, sondern wie du wirklich bist.
Stark. Aufrecht. Frei.
Und während du dir in die Augen siehst, begreifst du etwas Wesentliches: Es ist nicht falsch, Grenzen zu setzen. Es ist nicht falsch, zickig zu sein, wenn die Welt dich missversteht. Denn die Welt sieht nur das, was er zeigt – den charmanten Mann, der lächelt, der freundlich spricht. Sie sieht nicht den Tyrannen, der dich in den Wahnsinn getrieben hat, der dich kleinhalten wollte.
Scheiß drauf, was andere denken. Die Meinung anderer ist oft nur eine Momentaufnahme ihrer begrenzten Perspektive – sie erkennen nicht deine Realität, sie fühlen nicht deinen Schmerz, und sie haben keine Ahnung, wie viel Kraft es kostet, überhaupt durch den Tag zu kommen.
Deine Augen leuchten. Ein leises, freches Grinsen schleicht sich auf dein Gesicht. „Ich bin noch hier“, flüsterst du. Und zum ersten Mal seit Langem fühlst du dich ganz.
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