Die haarige Evolution des Kopfkissenmordes

„Wann hat der Horst denn schon wieder den Rasen gemäht?“
Ich dreh mich um zu Nachbars Garten. „Weiß nicht.“ Ich schaue zu unserem sprießenden Grün. „Ich muss morgen auch wieder mal ran.“
„Denkt keiner mehr an die Insekten.“
Ich schlage auf meine Halsschlagader, die habe ich erwischt. „Scheiß auf die Insekten.“
„Aber Manfred. Ohne Insekten kein schönes Vogelgezwitscher am Morgen.“
Und um so weniger Vogelschiss auf dem Auto.
Fett tropft auf die Grillkohle und es zischt. Gibt es etwas Beruhigenderes als den Duft von Feuer und Fleisch in der Nase?
„Manfred, denk dran, dass das Fleisch richtig durch ist.“
Also gibt’s heute wieder Schuhsohle. „‘türlich Schatz.“
„Aber nicht wieder anbrennen lassen. Das ist krebserregend.“
„‘türlich Schatz.“
Das Gemecker kann Mann nur runterschlucken.
„Manfred, trink nicht so viel Bier. Probier doch mal ein Wasser, das löscht den Durst und spült den Körper durch.“
„‘türlich Schatz.“
In meinen nächsten Leben, wenn ich als Fisch auf die Welt kommen.
Was ist das denn für ein Faden?
Ich drehe mich zu Sybille um. „Musst du immer und überall deine langen Loden verteilen? Das ist widerlich.“
Sybille fährt sich mit ihren Fingern übers Haar und bindet sich den Pferdeschwanz neu. „Stell dich nicht so an, sind doch nur Haare.“
Sind nur Haare. Ist ja nur das teuerste Biofleisch vom Metzger, das totgegrillt wird. Und ein Wohl auf die Insekten.
„Ach, schau mal Manfred, ist das nicht Uschi?“
Ich drehe mich zur Straße. „Ja.“
„Was hat sie denn da unter dem Arm?“
„Keine Ahnung. – Vielleicht eine Tasche?“
„Huhu, Uschi.“ Sie dreht sich zu uns um und nickt.
Sybille ist aufgesprungen. „Huhu, wo ist denn der Horst?“
Uschi behält ihren Stechschritt bei. „Der schläft. Ich muss weiter.“
Sybille starrt mich kritisch an.
Ich zucke zusammen. Was habe ich jetzt wieder falsch gemacht?
Sybille zieht eine Augenbraue hoch. „Schon komisch, oder?“
„Was?“
„Na der Horst. Der geht doch nicht so früh zu Bett.“
„Weiß nicht.“
„Also auf Partys ist er immer der Letzte, der geht.“
„Kann sein.“
„Genau wie du.“
Und das weißt du nur, weil du dann auch noch da bist. „So wird es sein, Schatz.“
„Aber der schläft doch jetzt noch nicht.“
„Vielleicht hat er Kopfschmerzen …“ Vom ewigen Gezeter seiner Frau.
„Sag mal, hatte Uschi da ein Kopfkissen unterm Arm? Was macht sie denn damit?“
„Weiß nicht Schatz.“
„Mensch pass doch auf Manfred, das Fleisch brennt doch schon wieder an.“
„Ach Mist. Gib mal den Teller.“

Scharfe Schuhsohle, prima.
Sybille löst wieder ihren Pferdeschwanz und ein Haar schwebt auf mein Steak. „Ach Sybille, das ist echt ekelhaft.“
„Ach stell dich nicht so an.“
Sie schüttelt ihr offenes Haar, lehnt sich vor und pult das widerliche Ding mit ihren spitzen Fingern von meinem Fleisch. „Ist doch nur ein Haar.“
Sie kommt mir mit ihrem Kopf immer näher. „Weißt du, was die Uschi mir letztens erzählt hat?“
Jetzt fängt der Tratsch auch noch an.
„‘türlich nicht.“
„Sogar das Kopfkissen wurde von einer Frau erfunden, wusstest du das?“
Nicht schon wieder der feministische Scheiß. Ich leere mein Glas in einem Zug. „Na, wenn die Uschi das sagt.“
Sybille nickt energisch mit dem Kopf und springt auf. Rasch räumt sie die Teller und das Besteck zusammen und stellt alles klirrend in das Servierkörbchen.
Ich umklammere mein Bierglas.
Nachdem sie mit dem Korb um die Hausecke verschwunden ist, hole ich mir heimlich noch eine Flasche aus dem Kühlschrank in der Garage. Hastig gieße ich das Glas voll, nehme einen ordentlichen Schluck und wische mir mit dem Unterarm über den Mund.
Sybille kommt zurück, setzt sich und schaut mich skeptisch an. Ich halte ihrem Blick stand.
Sie beugt sich vor und mein Herz beginnt zu bummern. Verschwörerisch flüstert sie: „Die Uschi, die hat nämlich erzählt, wie das früher so war. In der Steinzeit, damals, weißt du.“
„In der Steinzeit?“
„Ja, in der Steinzeit. Damals wurden die Frauen schon unterdrückt. Das ist sehr interessant. Und da gab es diesen Uh-Ah-Damus, der hat damals eine Eiszeit vorausgesagt.“
„Uh – Ah – Wer?“
„Na Uh-Ah-Damus. So ein Typ halt aus dem Rudel. Stell dir doch einfach vor, er hieße Uh-Ah-Damus. Das du auch nie Fantasie hast.“
„Rudel, mhm. Und der Typ aus dem Rudel wusste damals schon, dass eine Eiszeit kommt.“ Na das kann ja ein heiterer Abend werden. Wer kam eigentlich auf die Idee, heute zu grillen?
Sybille pickst mit ihrem Zeigefinger in meinen Oberarm.
„Mensch Manfred, stell dich doch nicht immer so an.“
Sie lehnt sich zurück und mustert mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Da war jedenfalls diese Uh-Dine. Und ihre Freundinnen, die haben das auch nicht geschnallt. Aufgebracht hat Uh-Dine gerufen: Es wird kälter, Mädels.“ Sybille kneift ihre Augen zusammen und ihr Mund wird schmal und verkrampft. „Haar, haarsträubend kalt.“
Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf.
Sybille bemerkt es und grinst. Sie schüttelt mit dem Kopf und die Haare fliegen durch die Luft. Erneut greift sie sich in ihr Haar.
„Uh-Dine raufte sich ihre schwarze Mähne angesichts der Einfältigkeit ihrer Artgenossinnen. Und aus Frust vor deren Gleichgültigkeit schabte sie die letzten Fleischreste vom Fell des erlegten Mammuts.“
„Haben die das Mammut damals nicht samt Fell über das Feuer gehangen?“
Sybille schnauft verächtlich. „Das Feuer entdeckt Uh-Dine erst später.“ Sie haut mit den Handflächen auf den Tisch und ich zucke zurück.
„Jedenfalls mag Uh-Dine das saftige Fleisch, liebt das Fell des Tieres. Die strubbeligen Haare. Sie könnte sich darin einwühlen.“
Ich schenke mir den Rest des Bieres nach. Diese Uh-Dine wusste wenigstens noch, wie man Fleisch isst.
Sybilles Stimme kreischt: „Haare – Fell – Schutz vor Kälte – Eisdings – Haar, haarsträubend kalt …“
„Schatz, ich hab’s verstanden.“
Sybille richtet sich auf. „Unterbrich mich doch nicht ständig.“
Sie bindet sich erneut einen Pferdeschwanz und schürzt die Lippen. „Wo war ich stehen geblieben? Ah, ja. Uh-Dine spulte im Rückwärtsgang ihre Gedanken ab: Kälte? Fell dient zum Schutz vor Kälte …“
„Na aber wenn sie das schon wusste, das Fell wärmt, dann hätte sie es sicher schon vorher angezogen. Was trugen die denn damals, Uschis Meinung nach?“
Sybille schlägt sich die Hände vors Gesicht. „Ach Manfred …“ Sie senkt die Arme und lächelt mich an.
„Das war damals wie an einem FKK, weißt du. Nur haariger. Die waren doch damals stark behaart.“
Beim Gedanken an einen feministischen FKK, und Haaren an den Beinen und unter den Achseln richten sich erneut meine Härchen auf.
Sybille bemerkt die Gänsehaut und fährt fröhlich fort: „Also, Uh-Dine saß so da mit dem Fell und die Männer im Rudel gafften sie wollüstig an. Da legte sie das eben vom Fleisch abgeschabte Fell um ihre Blöße und befestigte es mit einer Knochenspange.“
„Ach, ne Knochenspange hatten die auch schon?“
Sybille räuspert sich. „Ja klar. Hast du mich nicht erst vor versammelter Nachbarschaft darüber belehrt, dass der Dosenöffner noch vor der Konservendose erfunden wurde?“
„‘türlich Schatz, natürlich gab es schon eine Knochenspange, bevor es etwas gab, das man mit einer Knochenspange zusammenhalten konnte.“
„Na also. Uh-Dine spürte die Wärme. Es war etwas ungewohnt! Selbstbewusst trat sie mit dem Fell um die Lenden vor die Sippe. Irritation machte sich breit. Uh-Dine sah in entsetzte Gesichter, in entzückte, in fassungslose – und in begierige.“
Sybille lehnt sich zurück und mustert mich. „Ah-Lpha, ihr Mann, entriss ihr mit der Macht des Anführers den Fetzen und schlang sich das haarige Etwas um seinen eigenen Körper. Es gefiel ihm.“
Sie beugt sich vor und stützt ihre Unterarme auf den Tisch. Aufgebracht sagt sie: „Die Weibchen des Clans erhielten zusätzlich zu ihren althergebrachten Aufgaben, dem Sammeln von Beeren und Holz und dem Bewachen des Feuers …“
„Ich dachte das Feuer entdeckt sie erst später?“
Ein tödlicher Blick trifft mich und ich rutsche tiefer in den Stuhl.
„Die Frauen bekommen immer mehr und mehr und mehr aufgebürdet, seit Jahrhunderten, nein Jahrtausenden. Und du feilscht, ob das Feuer früher oder später gehütet wurde.“
Ich glaub nicht, dass überhaupt die Frauen das Feuer gehütet haben.
„‘türlich.“
Sie nickt energisch mit dem Kopf. „Also, die Frauen hatten so schon genug zu tun und mussten nebenher noch in die serielle Herstellung von Lendenshorts. Sie saßen in der Runde und nähten mit Knochennadeln und Pflanzenfasern Bekleidung für die Männchen, die Jungen und sich selbst.“
„Für so viel Fell mussten die Männer aber oft auf die …“
Sybilles Blick ist haarsträubend und ich schlucke den Rest meines Satzes runter.
Mit ihrem Finger pocht sie im Stakkato auf den Tisch. „Uh-Dines Nadel geht geschwind über das Fell, während sie vor sich hinträumt. Als sie das fertige Stück anprobieren will, findet sie keinen Einstieg. Sie hat nur eine Seite offengelassen. Die weiteren Seiten sind mit homo-sapischer Gründlichkeit geschlossen.“
Sybille stoppt  mit ihrer nervenden Geste und zieht ihre Augenbrauen zusammen. „Verärgert legt Uh-Dine die Nadel weg. Sie braucht  eine Pause und geht zum Fluss, um Beeren zu pflücken. Die saftigen Früchte wirft sie gedankenverloren in die verunglückten Lendenshorts, die sie unter ihrem Arm mitgenommen hat.“
Ich nehme noch einen Schluck Bier, aber diese Geschichte lässt sich nicht schön trinken.
Sybilles Stimme bebt. „Als Ah-Lpha mit seinen Mannen von der erfolgreichen Jagd zurückkehrt und die prall gefüllten Shorts erblickt, reißt er sie aggressiv an sich. In den praktischen Fellsack packt er von da an sein Hab und Gut. Aus Angst vor Neidern umklammert er ihn nachts mit seinen Armen und legt schützend seinen Kopf darauf.“
Ich will mir den Rest Bier aus der Flasche einschenken. Mist, leer.
Sybille drückt ihren Rücken durch und wird steif wie ein Mammut-Stoßzahn. Als sie weiterredet, meine ich doch tatsächlich Haare auf ihren Zähnen zu erspähen und beuge mich etwas vor.
„Was guckst du denn so, Manfred?“
„Nichts, Schatz“, sage ich und lehne mich zurück.
Sybille schnauft. „Eines Morgens erwacht Uh-Dine. Um ihr Haupt ist es frisch. Hat die vorhergesagte Eiszeit schon angefangen? Ihr Blick geht zu Ah-Lpha, der auf Armeslänge von ihr entfernt liegt. Neben ihm ein Faustkeil. Und eine Strähne dunkles langes Haar. Reflexartig greift sie sich an den Kopf. Es ist weg. Ihre lange Mähne. Ihr Haar, das sie so liebte.“
Ich versuche, mein Schmunzeln zu verkneifen.
Sybille funkelt mich an. „Uh-Dine schaut erneut zu dem Fellsack, auf dem es sich ihr Mann bequem gemacht hatte. Daraus quillt eine weitere Strähne.“
Sybille ballt die Fäuste und  Wutentbrannt reißt Uh-Dine Ah-Lpha ihr Eigentum unter dem Kopf hervor. Er erwacht. Dreht sich auf den Rücken und schaut sie mit zusammengekniffenen Augen an. Noch bevor er die Gefahr erkennt, drückt sie ihm den weichen, mit ihrem Haar gefüllten Fellsack auf Mund und Nase, bis er sich nicht mehr regt.“
Ich könnte meiner Frau jetzt auch den Mund stopfen. Ich gähne, um erkenntlich zu machen, dass sie nun langsam genug Aufmerksamkeit eingefordert hat.
Genervt aber entschlossen beendet sie ihren evolutionären Ausflug in die feministische Frauengeschichte. „Als der Rest der Sippe erwacht liegt Uh-Dine, die Erfinderin der Lendenshorts, des Fellbeutels und des Kopfkissenmordes seelenruhig auf dem gefüllten Fellsack, neben ihr der leblose Körper von Ah-lpha.“

Als ich im Bett liege schließe ich provokativ die Augen. Und ich stelle mir vor wie meine Frau für immer schweigt.
„Schlaf schön, mein Liebster“, flötet sie.
Ich öffne ein Auge und denk mir: Ach, eigentlich habe ich mich doch an sie gewöhnt.
Ich reiße das andere Auge auf, als ich bemerke, dass etwas Weißes, nein, ein florales Muster immer näherkommt. Bis es schwarz wird.

 

 

 

 

 

 

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Schlecht gelaunt durch die Pubertät

 

Als ich neun Jahre alt war, kam die Wende. Ich komme aus einer Stadt, die selbst für DDR-Verhältnisse hinterwäldlerisch war. Bei uns kam alles ein bisschen später.
Meine Lieblingslehrerin arbeitet jetzt an der Pommesbude, weil sie bei der Stasi war.

Während meine Mitschülerinnen stolz ihre Brustansätze in floralen Bodies zeigen, verschwindet mein Body in übergroßen Totenkopf-T-Shirts.

In einer Erinnerung übe ich mit einer Mitschülerin eine Choreographie zu Madonnas „Like a Virgin“, in einer anderen sitze ich mit einer anderen Mitschülerin auf einer Friedhofsbank und wir trinken Kellergeister, die wir vorher im Laden gezockt haben.

Meine Erinnerungen sind ein Kaleidoskop der unterschiedlichsten Kameradinnen, Cliquen, Diebstähle, Alkohol, Rauchen, Schule schwänzen, in Gärten einbrechen. Die Liste ist lang, die Konsequenzen selten.

Einmal wurden wir in der Hofpause beim Zigarettenklauen erwischt. Die Hofpause vor der Geschichtsarbeit. Polizei – Revier. Die Eltern meiner Klassenkameradin haben mich mitgenommen.
Konsequenzen?
Wir schrieben die Klassenarbeit nach. Der Detektiv kam nicht zur Verhandlung. Wir haben Hausverbot bekommen.
Ich weiß gar nicht, ob meine Mutter das je erfahren hat. Mein Bruder hat mich zur Verhandlung begleitet, er war damals schon 16. Ich habe ihm dafür zwei Ohrlöcher stechen lassen.

Es kann sehr schnell gehen, dass man abrutscht. Alles geht so schnell. Meine Pubertät ist wie ein Jahrmarkt in meinem Kopf. Viele Eltern merken das gar nicht.

Ich war nie ein Mitläufer. Ich war orientierungslos, gelangweilt, ohne Perspektive.

Aber kein Mitläufer. Manche Leute wurden mir zu grob, zu asozial. Alkohol, Frauen wurden geschlagen. Eine Kneipe wurde überfallen – der Typ wohnte im Block darüber, natürlich wurde er geschnappt. Es gab viele Schlägereien. Überfälle.

Ich fand meinen Weg zu einer Kinder- und Jugendfarm, wo Kiddies Hütten bauen konnten. Das Beste, was mir passieren konnte.
Der erste Lichtblick, der mein Leben in geordnete Bahnen lenkte.
Diese Einrichtung hat mir das Leben gerettet. Und die Gelder für solche Einrichtungen wurden schon damals massiv gekürzt.

Das ist heute eines meiner großen Anliegen.

Dem sozialen Engagement mehr Aufmerksamkeit und Glanz zu verleihen.
Denn bei Streetworkern, Sozialarbeitern und im gesamten Sozialbereich wird nur mit dem Rotstift hantiert.

Interessieren dich mehr Geschichten aus einer rebellischen Jugend?
Dann schau auf meinen Blog.
Oder schreibe mir eine Nachricht und ich schreibe im Blog mehr darüber.

ein Mädchen schaut ängstlich in die Kamera, ein Mann hält ihr den Mund zu
TW: Sexualisierte Gewalt


Meine erste einschneidende Erinnerung, da muss ich gerade erst in die Schule gekommen sein, wenn überhaupt. Ich war mit einer Bekannten unterwegs.

Wir gingen am Friedhof entlang. Am Zaun stand ein älterer Mann mit seinem Ding in der Hand. Meine Begleiterin sagte, er masturbiere. Ich kannte den Ausdruck nicht. Ich habe mir auch nichts dabei gedacht, als ich wieder zu Hause war.

Für meine Begleiterin war es wohl eine größere Sache und sie erzählte es ihrem Vater, der Polizist war. Und da fing das Drama an. Ich musste auf die Wache gehen und Alben voller Straftäter durchsehen, um zu sehen, ob ich den Mann wiedererkannte.

Damals wusste ich noch nicht einmal, dass all diese Männer Straftaten begangen hatten, ich erkannte niemanden wieder.

Das Ende vom Lied war, dass das andere Mädchen ihre Aussage zurückzog und meinte, der Mann hätte wahrscheinlich nur gepinkelt.

Mein Gefühl sagt mir, dass man mir damals vorgeworfen hätte, ich hätte dramatisiert und so einen Aufstand gemacht. Aber ich erinnere mich nicht.

Ein paar Jahre später wurde es deutlicher. Im Plattenbau im Erdgeschoss wohnte ein älterer Herr, der immer an die Balkontür klopfte und sich einen runterholte.
Das Schlimme war, dass er auch eine Frau hatte. Und ein kleines Mädchen war auch öfter da.
Wir haben ein paar Mal geklingelt, um das Mädchen kennenzulernen, ob es ihm gut geht.
Aber es hat nie jemand aufgemacht.
Wir haben bei Nachbarn geklingelt und ihnen Bescheid gesagt. Aber niemand hat uns ernst genommen.
Irgendwann haben wir einfach nicht mehr auf das Klopfen reagiert.

Und heute frage ich mich, ob es derselbe Mann vom Friedhof war.

Aber der Gedanke drängt sich noch mehr auf: Ist das Mädchen unversehrt? Und hat wirklich keiner der Nachbarn etwas bemerkt?

Als ich etwa 12 Jahre alt war, fuhr ich mit meinem Klapprad nach Hause. Ich überholte einen Jungen. Ich wollte ihn nicht ärgern, ich war einfach schneller.
Er ist mir dann hinterhergefahren. Als ich ins Haus ging, um mein Fahrrad in den Keller zu bringen, hielt er mir plötzlich die Tür auf. „Schön“, dachte ich nur.
Er folgte mir in den Keller, drängte mich in eine Ecke und griff mir zwischen die Beine. Ich wehrte mich, schlug um mich. Ich erinnere mich nicht, auch nur einen Laut von mir gegeben zu haben. Es gelang mir, ihn wegzustoßen, ich rannte die Treppe hinauf und klingelte.
Er ist an mir vorbei, auf sein Fahrrad und weg.
Ich habe mein Rad wieder aufgehoben und bin zu meinen Klassenkameradinnen gefahren.
Sie haben mir nicht geglaubt.
Ich habe geschwiegen. Warum sollte ich lügen? Ich habe nie Geschichten erzählt, um mich wichtig zu machen. Warum sollte ich jetzt damit anfangen?
Ich habe den Vorfall schnell vergessen. Es war ja nichts passiert.

Es blieb nur das Gefühl, dass einem niemand glaubt.
Und ich bin fest davon überzeugt, dass jede Frau schon einmal sexualisierte Gewalt erlebt hat.
Viele bagatellisieren die Erinnerung:
Es ist ja nichts passiert.
Das ist doch normal.
Du hast es provoziert.
Hak es ab.


Und ich glaube, dass die meisten Frauen viel schlimmere Erfahrungen gemacht haben als ich.

Agatha Huxley mit 20 Jahren und Schildkröte in der Hand grinst in die Kamera.Adoleszenz

 

In der 8. Klasse bin ich sitzen geblieben. 

In meinen Cliquen wurden die Mädchen herumgereicht, und sowohl Mädchen als auch Jungen haben Sex bewertet, es gab Listen bzw Punkte.

Die ersten Mädels waren schon schwanger.

Boah, das war gar nicht meine Welt. Ich habe mir geschworen, ich nehme nur einen Typen, der noch nichts mit meinen Kameradinnen hatte.

Und dann habe ich jemanden kennen gelernt, der sogar ein Bücherregal hatte. Ich war hin und weg. Wir kamen ziemlich schnell zusammen. Und er hat mehr in mir gesehen, mich gefördert.

Das sitzenbleiben hat mich geerdet. Ich habe weniger geschwänzt und kam ganz gut durch bis zur 10. 

Es wurde Zeit sich eine Ausbildung zu suchen.

Durch das Hüttenbauen bei der Kinder- und Jugendfarm habe ich meine Liebe zum Holz entdeckt und eine Schreinerlehre gemacht. Ein schöner Beruf, aber ich konnte mir nicht vorstellen, bis Ende 60 Fenster und Möbel zu schleppen. 

Also habe ich mein Fachabitur gemacht. 

Man hat mir immer oft genug gesagt, wie dumm ich sei, aber durch eine abgeschlossene Lehre dauert ein Fachabi nur ein Jahr. Was hatte ich zu verlieren? 

Auch wenn meine Familie sagte, ich solle lieber arbeiten und Geld verdienen, das Fachabi schaffe ich sowieso nicht.

Ich habe es ohne große Schwierigkeiten geschafft.

Und jetzt? 
Auf Studieren war ich nicht vorbereitet. Es war absurd. Aber irgendwie auch verlockend. 

Ich habe mich für Journalismus beworben, aber dafür hätte ich eine zweite Fremdsprache lernen müssen. Englisch war mir schon zu viel.

Ich wollte Angewandte Kunst und Möbeldesign studieren und habe einen zweitägigen Eignungstest gemacht, aber die Professorinnen meinten, ich solle mich nächstes Jahr wieder bewerben und in der Zwischenzeit mein künstlerisches Talent weiter entwickeln.

Und ich habe mich für Buch- und Verlagswesen beworben, weil ich Bücher liebe.
Bei der Bewerbung war ich leicht betrunken und gab als zweiten Studienwunsch Wirtschaftsmathematik an. Mathematik hat mir schon immer Spaß gemacht. Für Buch- und Verlagswesen waren meine Zeugnisse zu schlecht.

Upps, entgegen den Erwartungen meiner Familie bin ich heute Diplom-Mathematikerin.

Ich habe das Studium nur aus Trotz durchgezogen und geschafft, mit dem Ansporn: Euch werd ich’s zeigen. Es war die Hölle! Ich bin ganz allein in eine fremde Stadt gezogen.
Die meisten Kommilitonen kamen vom Gymnasium, Leistungskurs Mathe. Im ersten Semester kamen Formeln, von denen ich noch nie gehört hatte, für die anderen waren das Fingerübungen.

Die anderen kamen aus elitäreren Kreisen.

Ich war total überfordert. Ich habe keinen Anschluss gefunden. Ich habe viel Wein getrunken. Irgendwann habe ich mich selbst verletzt, um mich zu spüren.

Es tut heute noch weh, wenn ich an diese Zeit zurückdenke. Aber so schmerzhaft es auch war, es war wie eine neue Geburt.
Damals entstand meine erste veröffentlichte Geschichte:
Januarnacht. In der Anthologie: Und niemand glaubt an mich?!

Ich kann euch aus eigener Erfahrung sagen:
Glaubt an euch!
Glaubt an eure Mitmenschen.
Viele haben einfach keine Perspektive, aggressives Verhalten ist oft ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Statt mit Vorurteilen um sich zu werfen, schaut hin, schaut hinter die Fassade.

Dahinter stecken oft schöne Menschen, nur ihre Wunden machen sie hässlich.

Ich hatte das Glück, dass jemand mehr in mir gesehen hat. Und ich habe viele Menschen getroffen, die mehr in mir gesehen haben.

Heute bin ich erfolgreich selbständig. Ich lebe mit Mann und Hund in einem eigenen Haus im idyllischen Teufelsmoor.

Und das können so viele andere, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind auch erreichen.

Nein, nicht jeder kann es schaffen. Aber in vielen steckt bedeutend mehr Potentail, als die Gesellschaft in ihnen sieht.

Interessieren dich mehr Geschichten wie ich mir selbst zu einem erfolgreichen Leben verholfen habe?
Dann schau auf meinen Blog.
Oder schreibe mir eine Nachricht und ich schreibe im Blog mehr darüber.

Warum ich schreibe

 

Schreiben ist Selbstreflexion.

Durch das Schreiben erkläre ich mir die Gesellschaft, tauche durch meine Geschichten in neue Perspektiven ein.

Ich liebe das Tiefseelentauchen.

Ich schreibe die Geschichten, die ich gebraucht hätte, als ich jung war.

Ich möchte die Gesellschaft durch das Schreiben ermutigen, hinzuschauen statt wegzuschauen.

Ich möchte den Underdogs der Gesellschaft eine Stimme geben, weil ihnen niemand zuhört, weil sie niemand wahrnimmt.

Ich möchte die Gesellschaft besser machen.
Ich möchte Menschen ermutigen, über sich hinauszuwachsen.
Ich weiß, wie schwer es ist, abgeschrieben zu werden.
Jeder Mensch verdient ein Leben in Würde.
Und viele verlieren ihr Leben im Schmerz und nicht in der Hoffnung.

Ich habe einen Traum, in dem jeder Mensch gleich ist.
Ich habe einen Traum, in dem jede Frau laut und wütend sein darf.
Ich habe einen Traum, in dem jede Frau sich selbst gefällt, ohne die Erwartungen anderer erfüllen zu müssen.
Ich habe einen Traum, in dem jede Frau ohne Angst lebt.
In meinem Traum gibt es keine Angst, nicht zu genügen, keine Angst vor Übergriffen, keine Angst vor Gewalt.
In meinem Traum ist jede Frau frei. Frei in ihren Entscheidungen. Frei ihr Leben zu leben.
In meinem Traum kann eine Frau glücklich und erfüllt sein, auch ohne Mann, auch ohne Kind.

Mein Traum wird seit Jahrhunderten geträumt.
Mein Traum ist für viele Frauen zum Alptraum geworden.
Das wirkliche Leben vieler Frauen ist ein Albtraum.

Ich habe einen Traum, in dem alle Menschen gleich sind.
Ich habe einen Traum, in dem es kein Outing gibt, weil jede Sexualität selbstverständlich ist.
In meinem Traum lächle ich und bin ruhig.
In meinem Traum bin ich glücklich, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein.

Ich weiß, es ist nur ein Traum.
Ein Traum, den viele träumen.

Träumst du mit mir?


Dann schau auf meinen Blog.

Meine Werte

 

Als ich in der Schule mal wieder aus der Klasse geflogen bin und zum Direktor musste, sagte er zu mir: “Du hast einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, du weißt nur nicht, wie man ihn richtig einsetzt.

Ich weiß bis heute nicht, was er damit meinte, war ihm die Inkompetenz dieser beiden Lehrer bewusst, bei denen es keine 5 Minuten dauerte, bis ich rausflog?

Jedenfalls habe ich einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Das dachte ich sehl lange.

Aber was ist gerecht?
Dass es keine Ausbeutung gibt. Dass alle Menschen gleich sind und die gleichen Chancen haben. Dass Gewalttaten angemessen bestraft werden.
Wer Gerechtigkeit will, muss auch gerecht handeln, sich selbst gegenüber, aber auch in der Erwartung der anderen.

Und wer definiert was gerecht ist?

Gerechtigkeit kann sehr subjektiv werden.

Bin ich immer gerecht? – Fast immer.
Mir selbst gegenüber? – Niemand ist mir gegenüber strenger als ich.
Den anderen gegenüber? – Unmöglich! Jeder hat seine eigene Realität, jeder hat andere Erwartungen.

Gerechtigkeit ist von der Natur nicht vorgesehen.
Es gilt das Recht des Stärkeren. Fressen oder gefressen werden.

Gerechtigkeit ist ein moralisches Konstrukt der Menschen, um Ordnung zu halten. Um Verbrechen zu sühnen.

Dafür stehe ich:
– Authentizität
– Sinnhaftigkeit
– Ehrlichkeit

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