Warum Realitätsferne das Vertrauen zerstört – und was dagegen hilft
Was hat ein Unternehmer wie Elon Musk, das unseren Politiker*innen oft fehlt?
Elon Musk hat ein Imperium aufgebaut. Der Mann schießt Raketen ins All, baut Elektroautos, will den Mars besiedeln und hat nebenbei Twitter aufgekauft, nur weil er es konnte. Ein Visionär, risikobereit und, das muss man ihm lassen, jemand, der weiß, was er tut. Musk versteht die Mechanismen der Märkte, hat ein untrügliches Gespür für Trends und kennt die Technologie, die seine Unternehmen antreibt.
Ob man ihn mag oder nicht – eines ist klar: Er bringt Ergebnisse. Und nun stellen wir uns vor, ein solcher Mann geht in die Politik. Klingt aufregend, oder? Vielleicht. Vielleicht auch gefährlich. Denn Politik ist kein Spielplatz für riskante Wetten. Doch das bringt uns zu einer entscheidenden Frage: Warum erwarten wir in der Politik oft weniger Kompetenz als von einem CEO?
Die Realitätsferne der Politik
Politik ist keine leichte Aufgabe. Wer Entscheidungen trifft, die Millionen Menschen betreffen, trägt eine enorme Verantwortung. Doch wie viel von dieser Verantwortung spüren Politiker*innen wirklich, wenn sie oft keinerlei Bezug zur Lebensrealität der Menschen haben? Es gibt in Deutschland keine formalen Anforderungen an Ausbildung oder praktische Erfahrung, um ein politisches Amt zu bekleiden. Keine Praxis, kein Kurs, keine Prüfung – und zack, schon wird über Milliardenbudgets, Bildung und Pflege entschieden.
Das führt dazu, dass Bürger*innen sich oft fragen: Wie kann jemand über Arbeitsbedingungen in Pflegeheimen entscheiden, der nie eine Schicht dort gearbeitet hat? Oder Bildungspolitik gestalten, ohne je in einem Klassenzimmer gestanden zu haben? Die Antworten bleiben meist aus – oder sind schlicht enttäuschend.
Natürlich, es gibt Quereinsteiger. Sogar bei Lehrer*innen. Doch auch diese müssen ihre Fachkenntnisse nachweisen und sich fortbilden. Und wenn ein Koch ohne Hygienekurs in der Küche steht, wird der Laden schnell dichtgemacht. Warum wird Politik anders behandelt?
Heuchlerische Politik: Doppelmoral inklusive
Als wäre Realitätsferne nicht genug, kommen manchmal noch fragwürdige Machenschaften hinzu. Es gibt Politiker*innen, die Gesetze zur Besteuerung von Reichen beschließen, nur um anschließend vor eben diesen Reichen Vorträge zu halten. Thema: Wie umgeht man die neuen Steuerregeln? Charmant gesagt: Das ist, als würde ein Dieb Alarmanlagen verkaufen und gleich die Schwachstellen mitliefern. Weniger charmant: Es ist schlicht heuchlerisch.
Doch damit nicht genug. Skandale wie die geplatzte PKW-Maut zeigen, wie fahrlässig manchmal mit öffentlichen Geldern umgegangen wird. Verträge wurden voreilig abgeschlossen, bevor das Projekt überhaupt umgesetzt werden konnte – ein Fehler, der Deutschland letztlich 243 Millionen Euro kostete. Zusätzlich wurden seit 2014 über 76 Millionen Euro allein für Berater, Gutachten und Personal ausgegeben. Insgesamt summiert sich der Schaden auf über 300 Millionen Euro – für ein Projekt, das niemals realisiert wurde.
Oder die Vetternwirtschaft während der Corona-Krise: Minderwertige Masken wurden zu überhöhten Preisen beschafft, teils von Unternehmen, die durch persönliche Kontakte Vorteile erhielten. Dazu kommen Klagen von rund 100 Händlern gegen das Gesundheitsministerium, die einen Streitwert von über 2,3 Milliarden Euro umfassen. Solche Fehlentscheidungen und deren Kosten sind keine bloßen Peinlichkeiten – sie schädigen das Vertrauen in die Politik nachhaltig.
Leere Versprechungen: Der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit
Ein weiteres Beispiel für die Diskrepanz zwischen politischen Versprechungen und der Realität ist der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit, mit dem Ziel, Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 zu überwinden. Ein hehres Ziel, doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache.
Laut Statistischem Bundesamt waren Ende Januar 2024 rund 439.500 Personen wegen Wohnungslosigkeit untergebracht, ein Anstieg gegenüber 372.000 im Vorjahr und 178.100 im Jahr 2022.
Gleichzeitig sinkt die Zahl der Sozialwohnungen kontinuierlich. Obwohl genaue aktuelle Zahlen schwer zu ermitteln sind, ist der Trend eindeutig: Immer weniger Sozialwohnungen stehen zur Verfügung, während die Zahl der Wohnungslosen steigt. Zudem sind junge Erwachsene besonders betroffen; jeder Vierte im Alter von 18 bis 24 Jahren ist von Armut bedroht.
Angesichts dieser Entwicklungen wirken die Ziele des Aktionsplans realitätsfern. Wie sollen Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030 überwunden werden, wenn die Zahl der Betroffenen steigt und gleichzeitig immer weniger bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung steht? Es entsteht der Eindruck, dass politische Entscheidungsträger*innen entweder die Realität verkennen oder bewusst leere Versprechungen machen.
Warum ist Politik die einzige Ausnahme?
In fast jedem Beruf gibt es klare Anforderungen. Selbst in den scheinbar kleinsten Jobs: Kein Friseur färbt Haare ohne Chemikalien-Schulung, kein Bäcker darf ein Brot verkaufen, ohne die Grundlagen zu beherrschen. Und bei Berufen mit größerer Verantwortung – Ärztinnen, Ingenieurinnen, Anwält*innen – sind jahrelange Studiengänge und praktische Prüfungen Pflicht. Diese Regeln schützen uns vor Inkompetenz. Sie sind selbstverständlich.
Nur in der Politik, der wohl verantwortungsvollsten Aufgabe überhaupt, gelten diese Standards nicht. Niemand muss nachweisen, dass er oder sie die Lebensrealität der Menschen versteht. Niemand muss praktische Erfahrungen in Pflege, Bildung oder Sicherheit sammeln. Und niemand fragt, ob diese fehlende Praxis nicht zu genau den Fehlentscheidungen führt, die Bürger*innen so oft frustrieren.
Ein Sozialjahr als Lösung
Aber es geht auch anders. Was wäre, wenn jeder Politikerin vor der Kandidatur ein verpflichtendes Sozialjahr absolvieren müsste? Ein Jahr, in dem sie nicht nur über die Lebensrealität der Bürger*innen lesen, sondern sie erleben. Ein Jahr, in dem sie die Herausforderungen hautnah kennenlernen, die sie später durch ihre Entscheidungen beeinflussen.
Wie könnte das aussehen? Zum Beispiel so:
- Drei Monate Pflege: Nach der dritten Nachtschicht wird klar, warum die Arbeitsbedingungen dort reformiert werden müssen.
- Drei Monate Schule: Wer täglich mit überfüllten Klassen und überarbeiteten Lehrer*innen zu tun hat, denkt anders über Bildungspolitik.
- Drei Monate Polizei oder Feuerwehr: Der Umgang mit Krisensituationen lässt abstrakte Sicherheitsdebatten plötzlich sehr konkret erscheinen.
- Drei Monate sozialer Brennpunkt: Hier zeigt sich, was Armut wirklich bedeutet – und warum Sozialpolitik mehr ist als Zahlen auf einem Papier.
Dieses Sozialjahr wäre keine Bürde, sondern eine Chance. Eine Gelegenheit, wirklich zu verstehen, bevor man entscheidet.
Mögliche Gegenargumente – und warum sie nicht greifen
Natürlich könnte ein solches Sozialjahr auf Kritik stoßen. Manche würden sagen, es sei zu teuer, zu aufwändig oder zeitlich nicht machbar. Doch diese Argumente greifen nicht.
Die Kosten für ein Sozialjahr sind ein Bruchteil dessen, was Fehlentscheidungen wie die PKW-Maut oder die Maskenskandale verschlingen. Die zeitliche Belastung? Ein Jahr für ein Sozialjahr ist nicht viel, wenn man bedenkt, dass Politiker*innen Entscheidungen treffen, die unser aller Leben prägen. Und die Vorteile – mehr Empathie, bessere Entscheidungen, mehr Vertrauen – wiegen die anfänglichen Mühen bei Weitem auf.
Warum das nötig ist
Stell dir vor, ein Arzt würde ohne Studium operieren. Oder ein Pilot ohne Ausbildung fliegen. Undenkbar, oder? Warum aber lassen wir zu, dass Politiker*innen Entscheidungen über Pflege, Bildung oder Sicherheit treffen, ohne je praktische Erfahrung in diesen Bereichen gesammelt zu haben?
Ein verpflichtendes Sozialjahr könnte diese Lücke schließen. Es würde nicht nur Wissen, sondern auch Empathie und Bodenhaftung schaffen. Es würde Politikerinnen näher an die Menschen bringen, deren Leben sie beeinflussen – und Bürgerinnen zeigen, dass ihre Stimmen gehört werden.
Fazit
Unsere Demokratie braucht Politikerinnen, die verstehen, worüber sie entscheiden. Nicht aus Büchern, sondern aus Erfahrung. Ein verpflichtendes Sozialjahr wäre kein Angriff auf die Politik, sondern eine Einladung, sie besser zu machen. Eine Brücke zwischen Theorie und Praxis, zwischen Politikerinnen und Bürger*innen.
Denn Verantwortung braucht Erfahrung. Und Empathie beginnt dort, wo man die Welt durch die Augen eines anderen sieht. Oder, um es charmant zu sagen: Wer nicht bereit ist, eine Schicht in der Pflege zu übernehmen, hat vielleicht nichts auf einem Ministerposten zu suchen.
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